Montag, 1. Mai 2023

Mythos 1. Mai


Es hat tatsächlich bis zu meiner Buchhändler-Lehre gedauert, ehe ich mich ernsthaft mit dem "Tag der Arbeit" beschäftigt habe. Als Beamten-Kind, das in Dienstwohnungen  des Vaters aufwuchs, gab es keinen Kontakt zu Arbeiter-Familien. Und weil die sowohl in Hamburg als auch in München ihre Adressen in "gehobenen" Wohngegenden hatten, kamen auch die Klassen-Kameraden aus vergleichbaren Verhältnissen wie zuvor auch die Spielkameraden.

Und dann die Lehre: Sie begann mit drei Monaten Lager und Versandt. Ich stapelte Bücherpakete meist mit Frauen, die dazu verdienen mussten, weil der Lohn des Mannes nicht gereicht hätte, um die Familie zu versorgen. Frauen, die allesamt älter aussahen, als sie waren. Wir trugen graue Kittel und saßen in der Kantine zusammen beim Mittagessen. Was ich von deren Alltag und Lebensverhältnissen mitbekam, machte mich mundtot, über mein Leben zu sprechen, das ich ja zu jenem Zeitpunkt für total verkorkst hielt. Die "grauen Kittel" bekamen ihren Lohn jeden Freitag in Tütchen ausgehändigt, während meine Ausbildungsbeihilfe monatlich überwiesen wurde.

Am Ende der ersten drei Monate Lehre, prophezeite  eine der Frauen mir dann: Jetzt bekommst du einen weißen Kittel und dann kennst du uns nicht mehr. Da waren also doch noch die Klassen-Unterschiede. Und so kam es. Ich entwickelte in den Abteilungen, die ich dann durchlief, offenbar soviel Interesse, das ich jeweils als ein Kollege akzeptiert wurde und dann natürlich mit denen beim Essen zusammen saß...

Den nachhaltigsten Eindruck unserer Klassen-Gesellschaft bekam ich dann im Zivilen Ersatzdienst. Die Rotkreuz-Krankenhäuser, zu denen ich abkommandiert wurde, hatten einen Unterbau aus schlecht bezahlten,  zum teil grenzdebilen Menschen die mit großer Schamlosigkeit unter dem Deckmantel der Barmherzigkeit ausgebeutet wurden. Schockiert erfuhr ich von deren Lebensläufen und Schicksalsschlägen, die ich ansonsten eher in Romane von Alfred Döblin oder Hans Fallada verortet hätte. Aber doch nicht in ein München, dass im nächsten Jahr die Olympischen Sommerspiele ausrichten sollte. Ich hätte darüber schreiben sollen, aber das Schicksal machte mich zu einem Schreiberling im "Journal des Luxus und der Moden"...

So begehe ich als Rentner heute erst den 1. Mai 2023 in der Erkenntnis, dass dies eine Gedenktag ist, an dem die meisten frei haben, aber eher nicht mehr an den Blutzoll denken, den die Arbeiterbewegung entrichten musste, um Rechte zu erkämpfen, die wir heute für selbstverständlich halten: So, wie zum Beispiel für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen massiv streiken zu dürfen - wie im vergangenen Monat.
Der "Haymarket Riot" am 1. Mai 1886, bei dem 90 000 Menschen in Chicago für einen  Arbeitstag von acht Sunden demonstrierten, wurde noch blutig durch die Staatsmacht niedergeschlagen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Haymarket_Riot

Alle Plakate zu diesem Post stammen aus der sehenswerten Galerie des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB
https://www.dgb.de/themen/++co++3d82150a-1294-11df-40df-00093d10fae2

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