Mittwoch, 2. Mai 2018

Fernweh

Die Sehnsucht nach der Ferne ist ein unstillbarer Zustand in der Seele vieler Menschen. Vor allem von solchen, die es nicht immer ausleben können. Als ich 1989 einen Artikel mit der Prognose schrieb, dass zur Jahrtausendwende jeder dritte Reisende ein Chinese sein werde, wurde ich noch belacht. Heute beinahe drei Jahrzehnte später ist bereits jeder zweite Chinese außerhalb seiner Volksrepublik unterwegs. Die weltweite Touristik ist ein Wachstumsmarkt ohne Grenze, und das ist gut so. Trotz all der Sprach-Barrieren gibt es keinen preiswerteren Weg zur Völker-Verständigung, denn er finanziert sich ja selbst.

Dass jeder mit dem nötigen Kleingeld heute quasi reisen kann, wohin er will, verursacht natürlich auch Schäden. Nicht nur an der Ursprünglichkeit, sondern auch an den Ethnien, die sich Fernweh beim besten Willen niemals leisten können.

Ganzjährig ist das
mittelalterliche
Krumau fest in
Chinesischer Hand
Ein zweischneidiges Schwert! Dessen bin ich mir im Verlauf meiner Tätigkeit durchaus schon bewusst gewesen.  Mit dem heutigen Abstand und der Erkenntnis, dass ich keine "meiner Entdeckungen" noch so vorfinden werde wie einst, stelle ich fest, dass dieses Fernweh immer noch in mir ist. Nur ist es anders fokussiert. Bei meinen Reportagen stand in erster Linie das Erlebnis großer Landschaften im Vordergrund. Aus Zeitgründen kam die Entdeckung der Menschen immer zu kurz. Mit vielen, die ich traf, hätte ich gerne freundschaftlichen Kontakt gepflegt. Aber der Sauseschritt der Zeit, mit dem ich eilte, ließ das nicht zu.

Mein ebenfalls weltreisender Vater hat zumindest einmal im Jahr einen riesigen Karten-Stapel per Post in die Welt geschickt und so Kontakt gehalten. Bei mir sind alle wesentlichen Kontakte - so wie sie stattgefunden haben - in der Erinnerung erhalten. Manchmal verliere ich mich in diesen Erinnerungen und bin dann aber froh, dass ich nicht weiß, was aus den Leuten geworden ist.

Das nachbarschaftliche, internationale Cena in Piazza wird von Jahr zu Jahr größer,
aber manche fehlen dann doch...
In dem ligurischen Burgdorf, in dem ich nun bald zwei Jahrzehnte halbjährlich lebe, kenne ich die Schicksale der meisten. Wenn ich jetzt wieder hinkomme, kann ich einige nicht mehr treffen, weil sie im letzten - für Italien sehr kalten Winter - verstorben oder ins Altersheim gezogen sind.

Das memento mori, das Bewusstsein, dass das irdische Dasein eben begrenzt ist, verdränge ich mit jedem Jahr, in dem ich älter werde, umso heftiger. Es passt ganz und gar nicht zu den italienischen Momenten meines Lebensgefühls. Jedoch, die Erinnerungen sind zumindest solange parat, wie mein Gehirn noch funktioniert.

Das war's für dieses Halbjahr. Ab 17. Mai gibt es wieder viele optimistische Briefe von der Burg. Vor allem hoffe ich, dass mir die jüngeren Leserinnen und Leser trotz solcher gelegentlichen Anwandlungen gewogen bleiben...