Dienstag, 29. Januar 2013

Toleranz

In der Technik ist der Begriff Toleranz nicht nur schnell beschrieben, sondern auch genau zu definieren: Es ist das Ausmaß einer Abweichung vom Idealzustand, die ein Funktionssystem ohne Störung zulassen kann.

Bezogen auf die Funktion einer sozialen Gesellschaft sind Definition und die Bemessung zu gewährenden Spielraumes für Toleranz schon erheblich schwieriger. Wenn  sie nicht sogar gänzlich unmöglich sind, weil sich Individualität nicht physikalisch oder rechnerisch begrenzen lässt. 

Die sich selbst arrangierenden Kräfte einer gesunden Gesellschaft erledigen das, ohne dass wir darüber nachdenken müssen. Aber wehe es kommt zu Einflüssen, die ganz bewusst das Arrangieren von Toleranz stören oder nicht zulassen wollen. Dann steht Stabilität schnell mal auf wackeligen Füßen. Statt alle Beteiligten zum Stützen aufzufordern, ergibt sich sogar trennende Intoleranz.

In diesem Multikulti-Stadtteil hier geht etwas vor sich, das gemessen an Integration, die ich bei meinen Reisen in die Metropolen der verschiedensten Kontinente meist nur als abgeschlossen oder in der Endphase beobachten konnte: Die urbane Integration verschiedenster Nationalitäten und Rassen. 

Seit Deutschland eindeutig Einwanderungsland ist, müssen wir mit 60- bis 100jähriger Verspätung lernen, dass es außer unserer noch andere Auffassungen vom Zusammenleben gibt. Wir hätten dabei den Vorteil, aus den Fehlern der anderen zu lernen. Trotz der Erkenntnis, dass vieles an Integration derart zum Scheitern verurteilt ist, dass dabei auch immer Toleranzgrenzen erreicht oder überschritten werden. Einen Idealzustand wie in der Technik kann es gesellschaftlich eben einfach nicht geben. Selbst der größte Intellekt oder die strapazierfähigste Herzensgüte werden sehr leicht überfordert.

Wenn ich jetzt von einem Gleichnis der Supermärkte spreche, dann meine ich das nicht blasphemisch, sondern im wahrsten Sinne exemplarisch:

Hier vor dem Glashaus gibt es innerhalb eines Fußmarsches von unter fünf Minuten einen urbajuwarischen Metzger mit äußerst frequentierter Brotzeit-Theke, die Filliale einer deutschen Billig-Supermarkt-Kette, einen nordafrikanischen Gemischtwaren-Laden und einen chinesisch geprägten Asia-Markt. Auch ein von einem Hygiene-Skandal der übergeordneten Großbäckerei zum Teil betroffenen jetzt aber wieder florierenden Franchise-Brotladen findet seine Kundschaft, und am Ende der Querstraße macht die Nobel-Ausführung eines Supermarktes, der in der Vorstellung seiner Marketing-Leute eine gewisse Hochpreisigkeit zur Philosophie hat, tatsächlich ordentlich Kasse.

In den ersten Jahren kam ich mir vor wie der einzige Grenzgänger, aber mit den Jahren erkennt man die Käufer und ihr Wanderverhalten wieder - geradezu  wie in einer Dorfgemeinschaft. Zu Alladin, dem Tunesier kommen natürlich in erster Linie Landsleute, weil der Laden für die auch ein Stück Heimat ist, aber natürlich auch alle anderen Arabisch sprechenden Nationalitäten. So wie Familie Wu-Feng fast alle bedient, die aus Fernost kommen. Der neu eröffnete Pfennigfuchser-Markt drohte nur anfänglich als Konkurrenz zu dieser ethnischen Ausrichtung. - So wie der Metzger, der seine "einheimische" Kundschaft fast ausschließlich duzt, dessen abgepackte Fleischtheke nicht fürchten muss. Der Luxus-Supermarkt musste etwaigen Kaufkraft-Schwund seines Umfeldes auch nicht erleiden, weil in diese Lücke die reichen Russen stießen, die immer mehr Immobilien hier nicht nur erwerben, sondern auch bewohnen...

Obwohl Alladin jeden Morgen  stapelweise frisches Fladenbrot anbietet, sehe ich immer häufiger manche seiner Kunden auch mit Tüten voller Backwaren - vor allem Brezen - aus der Fillial-Bäckerei kommen. Inzwischen hat sich unter den Multikulti-Hobbyköchen herumgesprochen, dass grüner Koreander, Chilli und Ingwer bei Alladin auch, aber billiger und genauso frisch zu haben sind wie bei Wu. Soll heißen, Angebot und Nachfrage regeln überall harmonisch das Zusammenleben, und es kommt - so der Kundenverkehr es zulässt - immer häufiger auch zu Gesprächen über politische Aktualitäten. Wer zuhört, lernt etwas, und wenn es nur ein Hauch von mehr Toleranz ist.

Sogar die Polizei, die schnelle, die hier in den Park-Schutzzonen gerne und geschwind Knöllchen ausstellt, ist angesichts des Brotzeit-Wildparkens beim Metzger oder des abendlichen  Ansturms  der nordafrikanischen "Homies" in Zweierreihen äußerst tolerant. 

Ja, und wie passt dann dieser Beitrag aus dem Blog "Zölibat und Mehr" zu meinem persönlichen Eindruck?

"Wenn das Zusammenleben verschiedener Kulturen nicht funktioniert, sondern Verrohung und Respektlosigkeit erzeugt, dann spricht man von missglückter Integration. Der schwarzafrikanische Pfarrer in Milbertshofen weiß davon ein Lied zu singen, ein trauriges. Seit mehr als einem Jahr tyrannisieren muslimische Kinder und Jugendliche die katholische Kirche St. Georg, stören Gottesdienste, pinkeln ins Weihwasserbecken, beschmieren die Kirchenwände und zünden die Schriften der Kirche an. Selbst der 500 Jahre alte Altar war bedroht, weil die Jugendlichen Ziegel vom Dach rissen und es in die Kirche hineinregnete. Rund um St. Georg entsteht ein Klima der Angst, weil die einheimischen Deutschen sich vor den muslimischen Kindern und Jugendlichen fürchten. Manche denken bereits über eine Bürgerwehr nach..."
http://zoelibat.blogspot.de/2011/07/video-kirche-muslime-vandalismus.html

Die Streetworker, die hier im Glashaus ihr Büro haben und zum Teil selbst Moslems mit Migrationshintergrund sind, machen den Kindern weniger einen Vorwurf als der Erziehung in den Elternhäusern und den mehr und mehr von militanten Islamisten und Hasspredigern geprägten Koranschulen. 

Wo Toleranzgrenzen überschritten werden, muss eine Gesellschaft das genauso wenig hinnehmen wie der Hersteller eines technischen Systems, dessen Funktionstüchtigkeit  durch fehlerhafte Zulieferung zerstört wird.

Beide Seiten müssen - wenn sie auseinander driften - überlegen, ob sie in den Toleranz-Bereich zurück wollen. So wie die NSU-Mörder und die dazu gehörigen Szenen beizeiten mit unerbittlicher Konsequenz hätten verfolgt werden müssen, so wäre die Mehrheit der ja zur Integration bereiten Moslems aufgerufen, mit den Mitteln des Rechtsstaates, dessen Segnungen sie in Anspruch nehmen, in den eigenen Reihen Fehlfunktionen zu beheben.

Freitag, 25. Januar 2013

Nord-Süd-, Süd-Nord-Gefälle oder wirrer Westen?

Was herrschte kurz nach der Mitte des letzten Jahrhunderts für eine merkwürdige geographischen Dimension - im Kinder-Verstand? West-Ost war nicht zu verbinden, weil ein imaginärer Eiserner Vorhang und bald  darauf eine  veritable Mauer mit Todesstreifen-Verlängerung das verhinderte. Und dann gab es da ja auch noch ein wirtschaftliches  Nord-Süd-Gefälle. - Nicht nur in Deutschland, sondern auch global betrachtet.

Als mein Vater als Bundesbeamter versetzt wurde, war ich neun. Wir zogen von Hamburg aus dem hohen Norden in den tiefen Süden Deutschlands nach München. Ich hatte nicht kapiert, dass das Oben und Unten irgendwie mit der Draufsicht auf  die Landkarte zu tun hatte. Da ist Norden eben oben und Süden demzufolge unten. Es dauerte Jahre, bis ich nicht mehr sagte, wir seien hinauf nach Bayern gezogen, weil die Bayrische Landeshauptstadt ja mehr als 500 Meter höher lag.

Dass der Freistaat Bayern anders als Deutschland war, bekam ich gleich nach den ersten paar Tagen in der Volksschule zu spüren. Das "Fräulein" - so wurden die Lehrerinnen gleich welchen Familienstandes genannt - verdonnerte mich zum Nachsitzen mit Mitteilung an die Eltern: Wegen zu schnellem Sprechen und Besserwisserei (ich hatte kindlich naiv im Angesicht des lieben Jesulein am Kreuz über der Tafel angedeutet, dass ich nicht an Gott glaubte). Obendrein wäre ich in Hamburg an Ostern mit der vierten Klasse fertig gewesen. So musste ich die auch noch bis Ende Juli wegen des anders verlaufenden Schuljahres im Norden zusätzlich ableisten. Es wurde zur Strafe auch noch interkonfessionell gebetet, es gab Fleißbildchen für gute Leistungen (ich bekam nie eines), und die Buben durften nur in der großen Pause in Reihe zum Pinkeln antreten, während die Mädchen jederzeit raus durften. Das Katholische dominierte da generell noch das Protestantische.

Es klingt sicher blöde, wenn ich behaupte, dass ich das Nord-Süd-Gefälle vor allem kirchlich  kulturell so wahr genommen hatte. 

Fünf Jahre später - wegen fortwährender Anpassungsschwierigkeiten - auf einem privaten Gymnasium gelandet, wo alle Lehrer - gleichgültig welchen Ausbildungsgrades - mit Herr Professor anzusprechen waren, begann sich das Gefälle (wirtschaftlich) urplötzlich nach Norden zu orientieren. Auslöser hierfür war ein untersetzter Mann, der herrlich aus dem Stegreif lateinisch zitieren konnte und schnell mal als Verteidigungsminister eine ganze Chefredaktion als Geheimnisverräter einbuchten ließ, nur weil die ihn zuvor mit einer Grundstückspekulanten-Affäre in Verbindung gebracht hatte. Diese bullige, ministerpräsidiale Verkörperung der Liberalitas Bavariae. die wohl auch der Familien-Kasse nicht geschadet haben dürfte, gelang diese politische und wirtschaftliche Verkörperung Bayrischer Lebensart derartig nachhaltig, dass ihm folgende Ministerpräsidenten um Mehrheiten nicht ernsthaft besorgt sein mussten. - Bis sich einer fataler Weise auf eine Koalition mit einer Partei einlassen musste, die das Liberale sogar im Namen trägt, vom freiheitlichen Denken jedoch so weit entfernt ist, wie weiland jener Jets selber  fliegende Jägermeister von der Basis-Demokratie, nachdem jetzt das Verkehrskreuz des Südens benannt ist: Franz Josef Strauß.

Vor allem aber waren das Klima und die Schönheit der Landschaft für die Magnaten aus dem Norden so lebenswert, dass es bald zu kapitalen  und Standort bedingten Verlagerungen nach Süden kam

Das hat den Freistaat eben zum bestimmen wollenden  "Musterländle" gemacht (Baden Württemberg unter grüner Herrschaft wird ja kein aufrechter Rechter mehr so nennen wollen), das ganz oben steht. Und zwar im Süden mit Gefälle nach Norden - was weltpolitisch so gut wie einzigartig ist. 

Und darauf will ich heute eigentlich hinaus:

Trotz des Vermengen von Glauben und Ideologie mit Real-Politik klappt das hier in Bayern. Überall sonst ist der Süden nämlich auch immer wieder wegen Glaubensfragen  nicht aus seinem bedrohlichen Tal gekommen:

Zwar sind in Italien die Kräfte um die Lega Nord  und Konsorten ein wenig erlahmt, seit sie sich auf Berlusconi gestützt hatten, aber es könnte in ein paar Wochen schon anders sein, wenn separatistisches Gedankengut wieder den Mezzogiorno, den von Maffia und Camorra gebeutelten Süden Italiens, als Verursacher in den  Wahlkampf zerrt.

Der Süden Spaniens wird von separatistisch denkenden, reichen Katalonen und Basken als Bremse für ihr Wohlergehen gesehen. Im Cameron-hörigen Norden Irlands wird wieder die Angst vor den Europa-Republikanern im Süden geschürt. Nicht, ohne dabei Protestantismus gegen Katholizismus in Stellung zu bringen. 

Der gesamte Süden Europas sieht aktuell zudem in den Deutschen wieder die, die oben sind und von Norden nach unten in den Süden hineinregieren wollen. Ein Aberglauben, der schnell zur Konfession geraten könnte...

Und so ähnlich hatten wir das schon mal vom Beginn des letzten Jahrhunderts bis zum  Ende des Ersten Weltkrieges: 
Imperialismus von oben im Norden hinunter ausgeübt in den Süden  - das galt und gilt noch für Amerika  unter der Hegemonie der Vereinigten Staaten und  genauso für die Kolonial-Politik europäischer Monarchien und heutiger Oligarchien. -  Die Wahrung der Pfründe beschäftigte den Westen damals derart, dass er den Osten aus dem Blickfeld verlor und politische Veränderungen nicht länger überblickte und in der Folge völlig  falsch einschätzte:

Das bedrohliche Störpotenzial für den Frieden verbirgt sich heute in Chinas Folgerungen aus dem Turbo-Kapitalismus und der Finanzkrise, dem (möglichen atomaren) Nord-Süd-Konflikt Koreas, der zweiten islamistischen Front, die sich ungehindert in den südlichen malaiischen und philippinischen Archipelen bis hinein in den Indischen Ozean mit einem atomar gerüsteten Pakistan bildet.  Die Ballung von Problemen an den südlichen und östlichen Gestaden des Mittelmeers verdüstert dieses Szenario ja auch noch.

Bald 70 Jahre "Weltfrieden" haben den "Westen" vielleicht nur abgelenkt. Hoffentlich hat ihn die im Vergleich  zu größeren noch zu lösenden Problemen wie eine Schnitzeljagd anmutende Jagd auf Al Qaida nicht  ernstlich verwirrt.

Dienstag, 22. Januar 2013

Der Krieg ist aus Philippe!!!

Ein kleiner literarischer Beitrag aus der Jugend des Bloggers zum Jubiläum der deutsch-französischen Freundschaft:


  Um einer Auseinandersetzung wegen der geschmissenen Schule so kurz vor den Feiertagen aus dem Weg zu gehen, schlich sich Johannes in einem Moment in sein Elternhaus, in dem alle ausgeflogen waren, nahm all sein Geld, packte ein paar Sachen und hinterließ ein paar kryptische Zeilen von wegen, er müsse nun seinen eigenen Weg finden und gehen. Ein traditionelles   Familien-Weihnachten im Anblick seiner tadellosen Schwestern wäre nicht zu ertragen gewesen.  Er hatte ja zum Glück die Adresse von Mariette, mit der er sich irgendwie weihnachtlich himmlische Stunden erhoffte.
  Zwei Tage später setzte ihn ein freundlicher Camionfahrer am Hafen von Roscoff ab. Das von bunten Häuschen umkränzte Hafenbecken leuchtete in der früh hereinbrechenden Dämmerung wie ein Gemälde von Utrillio. Die wegen der Ebbe auf Stelzen im Schlick stehenden Fischkutter wirkten zudem wie für den Weihnachtsbaum vorbereitete Spielzeuge. Johannes surfte auf einer Woge der Euphorie, denn er hatte noch all sein Geld. Jedem, der ihn als Tramper mitgenommen hatte, war die Geschichte von der so weit entfernten  Liebe zu Herzen gegangen. Bei den Fernlastern durfte er in der Fahrerkoje schlafen, und die PKW-Fahrer hatten ihn zu Kaffee, Zigaretten und Imbissen eingeladen.
  Mariettes Adresse in Roscoff zu finden, war nicht schwer. Aber die Überraschung, die er Mariette und sie ihm bereitete, war umso schwerer zu verkraften. Mariettes Zuhause war ein typisch bretonisches Häuschen mit zwei Kamin-Giebeln und einem Reetdach dazwischen, weiß getüncht und von einem schmucken Garten umgeben.  Das Kinderspielzeug, das überall herum lag und die besonders bunte Weihnachtsdekoration hätte ihn eigentlich warnen sollen. Als er den Messing-Türklopfer betätigte, drang er kaum durch das Kinder-Geschrei im Inneren. Dann machte erst ein kleiner Indianer auf, der offenbar von einem großen Indianer gejagt worden war. Als aber hinter dem großen Indianer eine schreckensbleiche Mariette in Zivil auftauchte und in einem lautlosen Schrei erstarrte, traf den liebestrunkenen Fahrensmann die Ernüchterung wie eine Riesenwelle am Strand. Madame hatte Familie.
  Es war dies die erste einer Reihe von Begegnungen, die Johannes mit den Ehemännern seiner Geliebten haben sollte. Aber er meisterte sie nach einer Schrecksekunde, die er  - schauspielerisch geschult wie bei einem Text-Hänger - hinter einer Sprachbarriere verbarg, ebenso souverän -... wie die letzte; mit dem Charme völlig vertrottelter Hilflosigkeit: Kein Hahnrei vermutet doch, dass sich ausgerechnet die eigene Frau mit einem solchen Trottel einlassen würde.
  Er sei ein Schüler von Madame gewesen, auf der Durchreise in die Weihnachtsferien zu seinen Tantchen in Lorient und wollte Mariette nur schnell einen Blumenstrauß für die tolle Note im Mündlichen vorbeigebracht haben, wo er schon mal in der Nähe gewesen sei - und so weiter...
  Es war sooo peinlich! Natürlich ließen sie ihn nicht auf dem Absatz kehrt machen. Erst gab es bretonische Weihnachtsplätzchen, später wurde eine Flasche Rotwein geöffnet und es gab den unvermeidlichen "Calva". Dann war es auch schon dunkel, und es erhob sich die Frage, wie er denn weiter reisen wolle. Er machte die klassische Bewegung mit dem Daumen und provozierte damit natürlich die unvermeidlichen Proteste bretonischer Gastfreundschaft. Leider könne er in ihrem zu kleinen Haus nicht bleiben, aber Mariettes Vater wohne ja alleine in seinem Haus am Hafen. Ein Anruf ein kurzes Hin und Her auf  unverständlichem Bretonisch. Papa freue sich. Und nach einem üppigen Abendessen mit noch mehr Rotwein und Calvados zur Verdauung verfrachtete Mariette Johannes in ihren R4 und fuhr ihn zum Hafen. Es gab keine Erläuterungen, keine Bekenntnisse, keine Ausflüchte. Zu ehebrecherisch routiniert war beider Vertuschung abgelaufen, als dass es jetzt einer Diskussion bedurft hätte. Aber kurz vor dem Ziel überraschte Mariette Johannes mit einer verblüffend guten Imitation von Edith Piaf: "Non, je ne regrette rien!" Sie zog ihn während der Fahrt an sich und verpasste ihm einen dicken französischen Tantenschmatz auf die Wange. Souverän das ganze und sehr erwachsen!
  Als Mariette Johannes mit ihrem Vater bekannt und sich wohl unendlich erleichtert davon gemacht hatte, nahm die Weihnachtsgeschichte ihren Fortgang, und zwar mit Reminiszenzen an die deutsche Weihnacht.
  Saout Philippe - Bretonen nennen ihren Familiennamen immer zuerst - war Fischer und im Krieg in Gefangenschaft in Deutschland gewesen. Vier Jahre! Und obwohl er immer noch leidlich Deutsch sprach, weil  er seine kürzlich verstorbene Frau von dem  sauerländischen Bauernhof mitgebracht hatte, auf dem er Zwangsarbeiter gewesen war, hatte der Krieg in seinem Kopf noch kein Ende gefunden. Da kam ihm der "sal Boche", der auch noch aussah wie ein SS-Mann gerade recht.
  Und Saout Philippe war noch eines. Er war ein Instinktmensch. So wie er auf den Bänken immer wieder Schwärme von Dorschen und Makrelen aufspürte, wenn andere leer ausgingen, so vermochten seine wie ein Echolot funktionierenden Menschensensoren Untiefen im Gewissen seiner Mitmenschen anzupeilen. So konfrontierte er Johannes nach weiteren Calvas brutal mit seiner Erkenntnis: "Wir Saouts stehen auf blondes Germanisches. Ich habe meine Kleine nur anzusehen brauchen, um zu wissen, dass sie die Finger nicht von Dir lassen konnte. Quel insult! Dass Du es wagst, hierher zu kommen!"
  Es wurde der 22. Dezember 1966 geschrieben, und am Hafen von Roscoff entbrannte die vermutlich letzte Schlacht des zweiten Weltkrieges zwischen einem zu allem entschlossenen zähen kleinen bretonischen Fischer und einem hünenhaften deutschen Jungmann, der keine Ahnung hatte, was er verteidigen sollte. Denn es gab für nichts eine Entschuldigung.
  Die schrecklich vorgeschädigte Leber von Johannes hatte noch nicht annähernd damit angefangen, die Melange aus Rotwein und Calva zu verarbeiten, als ihn Philippe wachrüttelte:
  "Für Kost und Logis muss gearbeitet werden! Wollen doch mal sehen, was unser arisches Herren-Söhnchen auf hoher See zu leisten vermag." Sprach's und warf ein  nach Fisch stinkendes Bündel Ölzeug auf das Bett. Johannes war erstaunt, dass es ihm ohne weiteres passte, denn er war mindestens doppelt so groß und schwer wie der bretonische Fischer.
  Das Glühen des Hafens bei seiner Ankunft war die entsprechende Wetterbotschaft gewesen. Während der Nachstunden hatte sich eine regenschwere Wetterfront aufgebaut, die dichte Strippen Wasser quer über den nahen Kai peitschte. Eine funzelige Straßenlaterne schwang wild hin und her und ließ eine Gestalt aufleuchten, die Johannes noch einmal um einen Kopf überragte und schwärzer war als die Dunkelheit: Roland St.Pierre vom Übersee-Departement La Reunion machte ein von der Fischerei-Genossenschaft arrangiertes Praktikum bei Saout und verzog das Gesicht zu einem höhnischen Grinsen, als ihn Philippe einweihte, dass Johannes mit hinausfahren würde. Das Ölzeug war wohl die Zweitgarnitur von Roland, und Johannes würde es brauchen. Denn auf ihn wartete nicht ein üblicher Fischkutter mit Ruderhaus und Kajüte unter Deck, sondern eine offene Barkasse mit Mittelmotor. Gut vierzehn Meter lang mit fast ovalem Rumpf und aus schweren Holzspanten- und Bohlen gefertigt. Ein Riesending, aber die Größe wurde sehr bald relativ. Die Hochtide war schon am Ablaufen und sog sie förmlich aus dem Hafen und der Bucht hinaus in den Atlantik. Sobald sie die Leuchtfeuer der Einfahrt hinter sich hatten, rannten ungeheuere Wellenberge auf sie zu. Johannes hatte noch nie zuvor solche riesigen Wellen gesehen. Die Barkasse schrumpfte auf das Nussschalen-Klischee, aber noch funktionierte ja der Verstand von Johannes. Die beiden würden ja wohl kaum ihr Leben riskieren, um einem teutonischen Rassistenschwein eine Lektion zu erteilen. Tatsächlich erwies sich die eigenartige Form des Rumpfes als Ideal. Die Barkasse ging nicht schnell im Ruder und auch der Diesel stampfte nur auf Fangfahrt gerade schnell genug,  dass sie die wie Wälle aufragenden Wogen stetig überglitten. Der Magen machte dabei allerdings einen Durchsacker nach dem anderen mit. Während Philippe seine Barkasse mit ruhiger Bestimmtheit auf Kurs hielt, weihte ihn Roland in die Fangtechnik mit den "Ligne" ein. Das waren rund zwanzig Meter lange Angelleinen mit einem Lotblei am Ende, die im Abstand von einem Meter mit Steghaken versehen waren. Statt mit Ködern bestückt, waren sie mit kleinen Bündeln roter oder weißer Hühnerfedern kaschiert. Es ging auf Makrelen.
  Johannes hatte nirgends einen Kompass ausmachen können, eine halbe Stunde waren die Leuchtfeuer schon verschwunden, und das Schwarz der Nacht war allenfalls mit ein paar Tupfern Deckweiß aufgepinselt worden,  um die schwarzen Wellenberge noch bedrohlicher heran rollen zu lassen. Bis dahin hatte Johannes gedacht, er sei absolut seefest, aber als er Roland dabei zusah, wie der seelenruhig ein erstes Frühstück aus hart gekochten Eiern, Sardinen und einem Bier zu sich nahm, spürte er erstmals eine aufkommende Übelkeit. Ihm war klar, dass die beiden es irgendwie darauf anlegten, ihn bis zum Erbrechen zu demütigen und deshalb bot er seine ganze Willenskraft gegen die beginnende Seekrankheit  auf.
  Welchem Instinkt oder welcher Eingebung Saout Philippe nach ungefähr einer Stunde folgte, würde Johannes immer ein Rätsel bleiben. Aber mit sichtlicher Anspannung schrie er auf einmal: "Leinen raus! Schnell!"
  Johannes war noch genug bei Verstand, um Roland den Vortritt auf Backbord zu lassen, um zu sehen was er machte. Roland, der ja etwas länger war als er, ging mit weit gespreizten Beinen etwas in die Knie, um sich unter dem Wulst der Bordwand einzuklemmen. Denn die Regel "eine Hand für das Boot und eine Hand für den Mann" konnte ja beim Makrelen-Fang nicht aufgehen. Die aufgeschossene "Ligne" in der Linken und das Lotblei mit der  Rechten im Halbschwung in Richtung Bug über das Süllbord, war bei diesem Wellengang ein bedrohlicher Ballanceakt. Oben wurde man hochgelupft unten zusammengestaucht - aber nur wenn Philippe die Wellen anstach. Da er aber über der unsichtbaren Bank auf einen großen Kreiskurs gegangen war, konnte man sich auf gar nichts einstellen. Die eigentliche Herausforderung waren jedoch die Bisse. Philippe musste die Barkasse hellseherisch mitten in einen gewaltigen Schwarm gesteuert haben. Denn sobald die "Ligne" querab eine Senkrechte erreicht hatten bissen mitunter Makrelen auf jeden Haken und zogen und zappelten wie silberne Blitze in die verschiedensten Richtungen. Je länger ihnen dazu Zeit gelassen wurde, desto schwerer war es, sie einzuholen. Und es waren große Makrelen jede mehr als ein Pfund, die meisten jedoch im Kilo-Bereich oder drüber. Mit dem Einholen der Langleine mussten sie vom Haken und in die Bottiche Mittschiffs. Die kleinen in den einen, die großen in den anderen. Aber naturgemäß wollten die Makrelen nicht. Das waren muskelbepackte Torpedos, die im Trockenkampf gegen den Haken einen Silberregen tausender kleiner Schuppen über ihre Häscher herab gehen ließen. Johannes zahlte von der ersten Leine an blutiges Lehrgeld, als sich Haken um Haken beim Losmachen der Fische in seine bloßen Hände bohrte. Nach dem zehnten Einholen waren seine Hände Hackfleisch, aber das archaische Jagdfieber sorgte nicht nur dafür,  dass er keine Schmerzen mehr empfand. - Auch die Seekrankheit war weg, die ihn anfangs, als er sich im schaukelnden Boot zu sehr auf die Haken konzentriert hatte, zu übermannen drohte. Nun war da nur noch Leidenschaft und Abenteuer - ein Fangrausch, der bis zum  Hellwerden anhielt. Als die Bisse langsam weniger wurden, hatte er auch wieder Zeit seine Blicke weiter ins Rund zu schicken. Einige hundert Meter achterlicher als querab war ein russischer Trawler mit beeindruckender Elektronik auf dem Dach zu ihnen aufgeschwommen. Johannes schätzte den Abstand von seiner Wasserlinie zur Radaranlage auf mindestens sieben Meter. Jedes Mal wenn ihre Barkasse auf dem Wellenkamm schwebte und der Trawler im Tal versank, konnten sie von oben in die Dachbestückung schauen. Das heißt, die Wellen waren mehr als zehn Meter hoch, aber sie schreckten ihn nicht mehr - ganz im Gegenteil - sie euphorisierten ihn. Saout Philippe schien, das zu bemerken, und sein Widerstand gegen den jungen Deutschen schien schwächer zu werden.
  Indem er mit dem stoppeligen Kinn zum Trawler hinwies, meinte er grummelnd: "Da sieh! Der Krieg endet nie! Vielleicht sind die Feinde ja nur heute andere?"
  Ja, die Welt befand sich immer noch im kalten Krieg. Johannes hatte von den russischen Spionage-Trawlern gehört und gelesen. Jetzt hatte er erstmals wirklich einen gesehen. Sie waren also außerhalb der Dreimeilenzone gewesen. Johannes war mächtig stolz, aber auch gelockert,  als er meinte: "Wenigstens haben Sie Ihnen nichts weggefischt - Patron."
  Ob wegen des Patrons oder aufgrund der Bemerkung; die beiden so unterschiedlichen Fischer brachen in schallendes Lachen aus, und Philippe lenkte den stumpfen Bug seiner braven Barkasse in eine Richtung, von der nur er wusste, dass hinter der Kimmung der Hafen von Roscoff liegen würde.
  Es war Kurz vor neun als sie bei Hightide die Barkasse an den Kai legten, auf der schon ein Kühlwagen eines Fischhändlers wartete, obwohl die Barkasse keinen Funk hatte. Im Rhythmus der Gezeiten ließen sich halt gut Berechnungen anstellen. Die fangschweren Fässer auf die Kaimauer und die mitgebrachte mobile Waage zu wuchten, machten Roland und der Assistent des Fischhändlers. Es stellte sich heraus, dass sie in zwei Stunden reiner  Fangzeit 360 Kilo Makrelen der ersten Güteklasse gefangen hatten.
  Mit den Worten "50 Prozent für das Boot, 25 Prozent für den Patron und 25 Prozent für die Equipage", drückte Philippe ihm - trotz höflicher Ablehnung - wenig später ein leicht fischelndes und Meerwasser schwitzendes Geldbündel in die Hand. "Aber das war das letzte Mal, dass Du die Mariette geritten hast", sagte der Fischer und sah mit einem anzüglichen Grinsen zum Heck seiner Barkasse. Und richtig, in der Dunkelheit hatte er nicht sehen können ob das Boot einen Namen trug. Jetzt blinkte er in schönen Messinglettern im Morgenlicht: M A R I E T T E - Roscoff/Breize. Nicht France oder Bretagne - nein, bretonisch Breize - man war ja bei Separatistens an Bord gewesen...
  Als Johannes sich erbot, die beiden Fischer zum Frühstück einzuladen, konterten die, dass mit einem, der das erste Mal im Schuppenregen auf den Bänken gewesen sei und nicht gekotzt habe, ein anderes Ritual begangen werde. Nach alter Sitte müsse das bei Madame Etoil begossen werden, meinte Philippe augenzwinkernd zu Roland. Nun gut, dann eben eine Bar.
  In einer kleinen Gasse in der zweiten Häuserreihe am Hafen landeten sie mit ihrem immer noch schwankenden Seebeinen vor einem Häuschen, dem von Mariette nicht unähnlich nur pinkfarben, und ob der rote Stern, der über der Eingangstür leuchtete, Weihnachtsdekoration war oder ein symbolischer Hinweis auf den Namen Etoil, sollte sich erst drinnen klären.
  Natürlich wusste Johannes bereits, was ein Bordell war, aber selbst wenn er schon in einem gewesen wäre, dieses Etablissement war als solches nicht zu erkennen. Es war typisch bürgerlich französisch eingerichtet. Ein wildes Durcheinander von Stilmöbeln und Errungenschaften moderner Unterhaltungselektronik, ein offener Kamin mit tiefen Sofas. Und selbst die Damen des Hauses hätten als Familienmitglieder in Negligees kurz nach dem Aufstehen durchgehen können.
  Madame Etoil eine reife Schönheit im Vollbesitz aller Unterstützung der Kosmetik und Miederwaren-Industrie hatte ihren "nom de guerre" übrigens der Tatsache zu verdanken, dass sie anstatt Cherie, oder Chouchou jedes Gegenüber mit dem verbalen Attribut Etoil ausstattete. So auch die die drei schwankenden Neuankömmlinge: "Non, non, mes étoils! Eure Schuppendinger lasst draußen und dann vite, vite unter die Dusche und ins Schaumbad!"
  Es war eine Wohltat, aber auch eine Kriegslist, denn Philippe wußte - trotz des wachsenden Respekts für Johannes - wie er ihn doch noch ins Reich der Gefallenen nötigen konnte. Die letzte Waffe hieß Pastisse statt Zähneputzen.
Das würde den vom Seegang gepeinigten Magen zwar zunächst beruhigen aber dann einen Zeitzünder-Rausch auslösen, der den Germanen endgültig fällen würde. Zwei der jungen Dinger, die Madame "mes jeunes filles" nannte, schienen nur auf Roland gewartet zu haben. Sie faselten etwas von Place de la Concorde und Siegessäule, was Johannes erst viel später kapierte. Er musste zunächst über Rolands Seeräubermärchen lachen, dass der Peterfisch (Saintpierre) seine Erfindung und jene Delikatesse folglich nach ihm benannt worden sei. Angesichts seiner Jugend fühlte sich Madame offenbar verpflichtet, sich persönlich Johannes zu widmen, so dass ihm entging, ob Philippe ein braver Witwer blieb.
  Es war schon gegen Mittagszeit und ein halbes Dutzend Pastisses auf nüchternen Magen später, als sie jedoch einträchtig nebeneinander vor Madame Etoils Etablissement traten und gleichzeitig von der kalten frischen Luft niedergehämmert wurden. Sie spürten das Pieksen von Madames zurückgeschnittenen Rosenbeeten nicht mehr und starrten verschwommen in den milchigen Winterhimmel.
  "Waffenstillstand?" fragte Philippe ächzend.
  "Der Krieg ist vorbei! Philippe! Wir haben Weihnachten!", antwortete Johannes.
  450 Franc betrug der Fanganteil den Saout Johannes ausgezahlt hatte. Damit konnte man damals noch ein Hotel in Paris und einen Heimflug von Orly zahlen, den der Bretone - sobald er nüchtern gewesen war - noch ergattert hatte. So kam es, dass Johannes am 24. vormittags in München/ Riem landete und einen wirklich erinnerungswerten Heiligabend im Kreise seiner Familie verbrachte.


Sonntag, 20. Januar 2013

Gut behütet

In diesen Tagen vor 25 Jahren ist mein Vater gestorben. Seit einem Vierteljahrhundert kommuniziere ich dennoch beinahe täglich mit ihm, obwohl er ja nicht mehr da ist. Nein, nein ich rede nicht mit ihm, wie das Leute in Kitschfilmen mit den Grabsteinen ihrer Lieben tun. Ich gehe ja noch nicht einmal an sein Grab. Diese Kommunikation funktioniert als imaginärer Gedankenaustausch zu Sach-Themen. So wie wir  es immer angesichts von Veränderungen und Ereignissen in Gesellschaft, Politik oder Sport getan haben. Es ging auch zu Lebzeiten von klein auf eigentlich zwischen uns nie um Persönliches - eher um Bestandsaufnahmen und Einschätzungen, was als nächstes auf die Menschheit wartet... 

Passiert also etwas Einschneidendes, dann verspüre ich auch heute immer noch den Drang, mich spontan mit ihm auszutauschen und mache das dann auch. Das klingt vielleicht ein wenig gaga, funktioniert aber. Er hat ja bei seinem Tod im achtzigsten Lebensjahr als gebürtiger Berliner beispielsweise die Wiedervereinigung knapp verpasst,  den elektronischen Boom mit  Handys und Internet, aber auch unbegreifliche  Kriege in Ländern, die wir einst gemeinsam bereist hatten. Um das klar zu stellen, ich glaube nicht, dass er aus irgendeinem Loch im Himmel auf uns herunterschaut. Wenn unser Dialog spirituell ist, dann dergestalt, dass ich meine Überlegungen an seinem Intellekt messe, der mich geprägt hat und deshalb immer noch in mir nachwirkt. Auf diesem Prüfstand komme ich zu meinen persönlichen Ergebnissen und Einschätzungen. Wie vermutlich mein Vater das am beherrschenden Geist seines Vaters getan hat... Heute ging mir beim Stöbern im Internet  im wahrsten Sinne des Wortes der Hut hoch.

In der freien Internet-Enzyklopädie Wikipedia ist mein Großvater 1918 im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges zu sehen, wie er als Presse-Chef der Reichskanzlei mit Max von Baden und Wilhelm von Radowitz zum Reichstag eilt. Trotz der revolutionären Stimmung in diesen Monaten, gehen die drei ohne Personenschutz aber mit Melonen des Typs Homburg auf den Köpfen gut behütet leicht erkennbar  als Angehörige ihrer Klasse einher.

Da ich meinen Großvater nur ein einziges Mal in seiner Agonie auf dem Sterbebett zu Gesicht bekam, war ich, wenn ich etwas über ihn wissen wollte, auf die Schilderungen meines Vaters angewiesen, was stets in einem Exkurs in Deutscher Geschichte ausartete. Demnach war der Vater meines Vaters exakt der Typ Untertan, den Heinrich Mann in seinem berühmtesten Roman beschrieben hat: stets beflissen  und korrekt der Obrigkeit folgend - gleich welcher Couleur. Die Phasen seines Werdegangs waren im Familien-Fotoalbum am besten anhand seiner Kopfbedeckungen nachzuvollziehen: als Major im Kriegspressestab des Kaisers in Uniform mit "Schaffnermütze", als Wirklicher Geheimer Legationsrat eben mit Melone und als dann glühender Anhänger von Reichspräsident Friedrich Ebert schon auch mal mit "sozialdemokratischer" Ballon-Mütze. Dass er sich als Siebzigjähriger dann auch noch die Nazi-Uniform anzog und sich so ablichten ließ, war für meinen Vater, der sich dem Widerstand zurechnete, die Tortur, die zum Bruch führte.

Komisch wie Kinder denken: Tatsächlich verknüpfte ich beim Heranwachsen deshalb, dass Kopfbedeckungen mit politischer Ausrichtung zu tun hatten. Mein anderer Großvater, ein Kölner so durch und durch, dass er sogar unbedingt einen Ford Taunus fahren musste und im Kölner Männer Gesangsverein sang, war ein fanatischer Anhänger von Konrad Adenauer. Er kaufte beim gleichen Hutmacher und ließ beim gleichen Schneider seine dreiteiligen Anzüge schneidern, bis er seinem Idol - bei ähnlicher Statur - glich wie ein Zwillingsbruder. Er lebt in seinen Hüten fort, denn noch heute ist seine umfangreiche Sammlung nobelster Kopfbedeckungen der Fundus für die Faschingskostüme unserer Familie...

Meine Tochter, seine Ur-Enkelin, ist allerdings vor Jahren ausgeschert, als sie vom Schüleraustausch in Russland mit einer kompletten Sowjet-Ausgehuniform zurückkehrte. Ein Geschenk des Nachbarn ihrer Gastfamilie. Sie sah darin hinreißende aus. Ihre Urgroßväter allerdings hätte bei diesem Anblick vermutlich der Schlag getroffen.

Heute, am Tag der Wahl in Niedersachsen wird man die Politiker-Kaste beim Vorfahren nicht mehr an Homburgs oder Melonen ausmachen können wie weiland noch Professor Ludwig Erhard. Selbst Obama sieht man ja eher mit Baseball-Mütze. Borsalinos, Melonen auch  Hunphrey-Bogart-Hüte sind irgendwie aus der Mode gekommen. Rösler oder Gabriel mit Melone, Trittin oder Giesi mit Homburg - irgenwie wäre das lächerlich.

Es wäre aber auch in Zeiten des Personenschutzes und sportlich flacher Dienstlimousinen nicht praktisch. Und es ist  für Politiker  auch nicht mehr  ungefährlich, zu Fuß zu gehen und dabei auch noch mit so einem Hut auf dem Kopf auf sich aufmerksam zu machen.

Ein Traditions-Hutmacher und Königlicher Hoflieferant hat hier in Münchens feiner Maximilianstraße gerade seinen Laden dicht machen müssen, weil er - von der Politiker-Kaste im Stich gelassen - mit seinen Edel-Filzen gegen Rapper-Kappen und Rasta-Strickmützen nicht länger anstinken konnte.

Donnerstag, 17. Januar 2013

Pazifismus in der Zwickmühle

Als ich Ende der 1960er den Kriegsdienst verweigerte, musste ich nicht nur eine ausführliche schriftliche Begründung für meinen Schritt einreichen, sondern auch vor einer Kommission erscheinen, die mein Gewissen zu prüfen hatte. Das Kreiswehrersatzamt ging nämlich überwiegend davon aus, dass Verweigerer Drückeberger waren. Hätte einer aus der Kommission, das erlebt, was ich dann später im Ersatzdienst erleben musste, wäre ihnen diese Verdächtigung sicher absurd vorgekommen.

Heute gibt es keine Wehrpflicht mehr, und das klare Feinbild von einst ist durch den Fall der Mauer und das Scheitern  des real existierenden Kommunismus irgendwie diffus geworden oder ganz abhanden gekommen. Dabei ist die Bundeswehr mindestens an vier Fronten entgegen ihrer verfassungsgemäßen Bestimmung zur Verteidigung - im Kriegseinsatz.

Der vor kurzem verstorbene Ex-Verteidigungsminister Peter Struck hat eingedenk dieser Diskrepanz den Afghanistan-Einsatz Deutscher Soldaten mit dem epochalen Satz ummäntelt, dass unsere Freiheit ja am Hindukusch verteidigt werde. Dass die Grünen in der damaligen Regierungskoalition, diesem Kriegseinsatz zustimmen mussten, obwohl sie zuvor ja Teil der Friedensbewegung waren, bestätigt meine mittlerweile endgültig gewonnene historische Erkenntnis, dass Pazifismus und Politik auf keinen Fall zusammen passen. Dass wer Pazifist sein will, sich sogar gar nicht erst auf Politik einlassen darf. Was damals im übrigen auch meine Argumentationsführung vor dem Ausschuss war.

Leider hatte ich damals noch nicht das ausreichende geschichtliche Wissen, um meine These zu untermauern, dass Pazifismus nur eine ganz persönliche und allenfalls Beispiel gebende Einstellung sein kann.

Ein Prüfer damals beschwor sogar das Szenario des für 6 Oscars nominierten Civilwar-Epos "Lockende Versuchung" mit Gary Cooper, um mich zu verunsichern. Die Älteren unter den Lesern dieses Blogs werden sich vielleicht noch daran erinnern, dass in diesem Film von William Wyler die der Gewalt abschwörende Quaker-Familie in Glaubens- und Gewissenskonflikte gerät, als die Südstaatler auf ihre Farm vordringen. Das war gute Fiction.

Doch offenbart auch die Real-Politik, dass nicht nur Joschka Fischer als Außenminister Standpunkte verraten musste.

Der Ur-Denker Deutscher Sozialdemokratie und Mitverfasser des "Erfurter Programmes" hatte ja die Lehren von Marx und Engels durch eigene, pazifistische Einlassungen derart in Richtung gewaltfreie Revolution getrimmt, dass ihn Lenin einige Jahrzehnte später noch als Revisionisten verteufelte. Karl Kautsky war zwar in jenem Moment nicht Mitglied des Parlaments aber er nickte die sozialdemokratische Zustimmung zu den Kriegsanleihen für den Russland-Feldzug im Ersten Weltkrieg ideologisch ab.

Übrigens konnte auch der Gewaltfreiheit vorlebende Mahatma Gandhi den verheerenden indisch-pakistanischen Konflikt nicht verhindern. Aber er starb - immerhin, ohne seine Standpunkte jemals zu verraten - eben als Opfer eines Attentates.

Vom Paulus zum Saulus werden - das ist es, was Pazifisten in der Politik gemeinhin erwartet. Anderes zu erhoffen, ist Illusion. Auch ich kann meinen pazifistischen Standpunkt ja nur beibehalten, weil ich in der glücklichen historischen Situation bin, dass mir keiner eine Pistole auf die Brust setzt, ihm abzuschwören.

Wer erstmal begriffen hat, dass sich die Geschichte - wenn auch in sich ändernden Rahmenbedingungen - turnusmäßig wiederholt, und sich dabei in eben solcher Regelmäßigkeit die menschliche Unfähigkeit offenbart, aus ihr zu lernen, wird kaum unter den ersten Steinewerfern sein.

Klar ist, dass das gewaltsame Einmischen in Vorgänge des sogenannten Arabischen Frühlings nichts bringt, weil erstrangig Takfiri, Islam-Brüder und Salafisten nachrücken, die nicht weniger faschistoid und bereit sind,  das Volk zu unterdrücken - wie das Beispiel Ägyptens zeigt. Aber nur Zusehen könnte rund ums Mittelmeer und weit hinein nach Afrika allgemeine Zustände schaffen, wie sie die Weltpolitik seinerzeit im Iran gerne verhindert hätte. 

Es ist aber müssig darüber nachzudenken, ob die Welt anders geworden wäre, hätte das Deutsche Kaiserreich Lenin nicht den Transit per Zug erlaubt und ihn danach auch noch mit Hundertausenden von Reichsmark unterstützt. Wäre die Entwicklung im Iran weniger brutal verlaufen, hätten die Dienste die Absichten des Ayatollah Khomeini im Pariser Exil richtig entschlüsselt, anstatt ihn als Unheilsbringer zu exportieren?

Bei der Frage, ob die Franzosen in Mali zu recht militärisch eingreifen, gerate ich als Pazifist ziemlich in die Zwickmühle, denn ich sehe anderen Falles einen immer enger werdenden Gürtel gewaltbereiter, fundamentalistisch islamistischer Nationen, der von Mauretanien bis hin zum philippinischen Archipel reicht, und in dessen Zentrum vielleicht bald die von radikalen Muslimen beherrschte Atom-Macht Pakistan steht...

Montag, 14. Januar 2013

Ein stiller Star

Am Morgen, nach dem wir das Glashaus wieder besetzt hatten, wies mir die Zweitbeste die Aufgabe zu, die weit über hundert Jahre alte bretonische Pendule wieder in Gang zu setzen, die über unserem Esstisch hängt. Schon früher hing sie in den meisten unserer Behausungen an diesem Platz, war aber ein rechtes Ärgernis, weil sie regelrecht "ausgependelt" werden musste. 

Mit zerschnittenen Korken, Streichhölzern und Filzplättchen konnte ich justieren soviel ich wollte. Nach ein paar Stunden blieb sie stehen und verlangte die erneute Prozedur. Deshalb war ich nicht traurig, als sie beim großen Umzug nach Italien vierfach verpackt in Noppen-Plastikfolie in der Cantina blieb. Zumal sich schon eine große Standuhr der Gründerzeit auf der Burg als nicht mehr kurierbarer Patient einstellte. Dabei fehlte auch der nichts als ein kleiner Bimetall-Streifen, der die Amplitude des Pendels reguliert. Wir waren wirklich der Meinung, dass es in Italien eher Uhrmacher gäbe, die so eine Kleinigkeit reparieren könnten. Aber das war ein Irrtum. - Auch das Uhrmacher-Handwerk dort erlag  der digitalen Revolution.

Zehn Jahre also lag die Pendule im Regal der Cantina, dann kamen Rafael und Bri auf die Burg, um sich ein paar Tage von anstrengenden Berg-Touren im Piemont zu erholen. Mit dem Paar sind wir seit Teenager-Tagen nicht nur befreundet - mit Rafael waren wir sogar mal verschwägert. Der Schwager, Rafaels Bruder, hatte uns alle mit seinem bretonischen Pendule-Fimmel angesteckt, und alsbald hatte jeder von uns so ein Teil an der Wand hängen...

Daran erinnerte sich der Rafael, als wir vor der Bullen-Hitze in den Schlagschatten der Piazza flüchten mussten und seine Hände nichts anderes zu tun gehabt hätten, als ein Glas eiskalten Weißweines zu halten. Aber Rafaels Hände brauchen eigentlich immer etwas zu tun, und so fragte er die Zweitbeste, ob er sich nicht mal unsere Pendule anschauen sollte. Niemals hätte ich es fertig gebracht, ein derart jähes Leuchten in den Augen meiner Frau zu entfachen. Dazu muss aber auch ich gestehen, dass obwohl Reiche, Superreiche und erfolgsverwöhnte Stars mir in meinem Berufsleben abgewöhnt haben, für Menschen empathische Bewunderungen zu empfinden, der Rafael einer ist, der die krasse Ausnahme verkörpert.

Als manueller Tausendsassa hat er uns nicht nur Möbel gebaut, als wir uns Maßschreinerei noch nicht leisten konnten, er malt auch bis heute entzückende Bilder und kümmert sich, wann immer er gebraucht wird. Als Meister eines persönlichen Time-Managements gerät er dabei niemals in Stress - trotz seiner außergewöhnlichen, beruflichen Belastung... Sollte jemand in seinem Umfeld mal Zweifel an der Lösung eines Problems haben, dann erzeugt das bei ihm ein unnachahmlich wissendes Lächeln, das einen sofort verstummen lässt.

Voller erneuter Bewunderung sahen wir also dabei zu, wie er mit Geduld und ohne die Konversation mit uns zu vernachlässigen, die Pendule komplett zerlegte und auf Basis einer umfangreichen Diagnose deren Heilung versprach. Allerdings müsse er das zu Hause machen, da er da eben das entsprechende Ersatzteil-Lager habe.

Beim nächsten München-Aufenthalt brachten wir die grob wieder zusammengesetzte Uhr vorbei, und ein halbes Jahr später bekamen wir die Pendule in einem Zustand zurück, als habe sie der bretonische Uhrmacher-Meister, der sie einst schuf,  gerade erst ausgeliefert.

Alle Intarsien, Furniere und Perlmutt-Applikationen waren wieder hergestellt und nach kleinen Justierungen an ihrem endgültigen Platz gongt und tickt sie wie in ihren besten Tagen. Dazu lieferte Rafael eine umfangreiche Bild-Dokumentation über die einzelnen Arbeitsschritte seiner Restaurierungsarbeiten. Gerade so wie der Professor für Chirurgie seine Vorlesungen begleitet...Er ist eben nicht nur Uhrmacher-Meister, sondern gehört zu den wenigen Experten auf der Welt, die Siamesischen Zwillingen zu einem getrennten Leben verhelfen können.

Übrigens, während ich dies hier als kleines Dankeschön schreibe - er will ja nie etwas für seine Gefälligkeiten - tickt diese alte Uhr nach meinem Wiederaufziehen immer noch: Sieben Tage, fünf Stunden und 27 Minuten. Das dürfte so ganz nebenbei neuer Pendule-Weltrekord sein.

Samstag, 12. Januar 2013

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben

Da denkt der Blogger in seinem Glashaus gerade darüber nach, dass er den nächsten Post auch gut morgen schreiben könnte und  lieber die vor der Glasfront herabfallenden Schneeflocken zählt, da gibt es auch schon  wieder Wissenschaftler, die ihn mit ihrer Forschung aufscheuchend schubladisieren: 

Die Süddeutsche Zeitung widmet dieser schrecklichen Charakter-Eigenschaft in ihrem heutigen Wochenende-Teil einen sehr lesenswerten Artikel, der mich gleich veranlasst hat, nun doch jetzt sofort und ohne weiteren Aufschub zu posten. 

Innerlich protestiere ich natürlich dagegen, dass ich nach neuesten Erkenntnissen zu den 20 Prozent Prokrastinierern gehören soll. Hätte die Süddeutsche den Artikel nicht auf Montag verschieben können, anstatt den Verfasser permanent an seine Deadline für die heutige Ausgabe zu erinnern? Montag bis Donnerstag lese ich nämlich das beliebte Boulevardblatt Abendzeitung, dessen Artikel so kurz sind, dass man ihre Lektüre nicht auf die lange Bank schieben muss. Wer liest schon gerne die Wahrheit über sein Fehlverhalten?

Es ist klar, dass dieser Artikel und die Forschungsergebnisse explizit nicht auf den Berufsstand eingehen, der die Prokrastination jetzt gerade nicht nur modisch kolportiert,, sondern  dabei krass auch noch unterschlägt, dass er dieses Arbeitsverhalten quasi erfunden und institutionalisiert hat: der Journalismus.

Als ich noch mein Redaktionsbüro betrieb, gab es bei der Konferenz am Montag jedesmal den Leitsatz des Prokrastinierens zu hören - ohne dass wir freilich damals wussten, dass es dafür auch einen Fachausdruck gab. Das hätte den Äußerungen  eine gewisse General-Absolution gegeben:

Auf meine Frage an die Redakteure, was mit diesem oder jenem Beitrag sei, bekam ich unisono die Antwort:
"Der Artikel ist fertig, er muss nur noch geschrieben werden..."

Richtig böse aber konnte ich trotz des stets drängenden Redaktionsschlusses meinen Mitarbeitern nie sein. War ich doch selbst als Autor einer gewesen, der Buch- und Reportagen-Manuskripte mit wenigen Ausnahmen meist  auf den letzten Drücker ablieferte. Dass sich durch den enormen Druck der letzten Nacht eine Qualitätsverbesserung einstellte, wie ich mir zur Entschuldigung einredete, würde ich rückblickend ins Reich der Fabel verweisen. 

Die aktuelle Forschung beweist, dass ich unwissentlich ein ganz ganz  großer Prokrastinierer vor dem Herrn war. Und das Schrecklichste an dieser Erkenntnis ist, dass ich das genetisch an meinen Sohn weiter gegeben habe, der diesen im Aussterben begriffenen Beruf  leider  auch erwählt hat.

Als er zwischen den Jahren der Ferien halber auf der Burg war, und seine Arbeit sogar noch Heiligabend via Internet vormittags ins Format postete, meinte ich ungeduldig wartend, dass es für diese Art der krankhaft verzögerten Pflichterledigung doch einen wissenschaftlichen Begriff gäbe:

"Das nennt man Prokrastinieren", schoss der Nerd-Filius aus der Hüfte. Der Apple fällt eben nicht weit vom Laptop.

Für alle, die nicht lange davon lesen wollen, weil sie gerade Wichtigeres vor sich herschieben, hier eine einfache Video-Zusammenfassung zu diesem verachtenswerten Verhalten:

http://www.netzpiloten.de/2009/06/17/stop-motion-clip-fur-prokrastinierer/

Donnerstag, 10. Januar 2013

Angepasst!

Diesmal ist mir der Wechsel von der Burg ins Glashaus besonders schwer gefallen. Das lag nicht allein am Wetter. Das hatten wir ja schon öfter im Januar, dass die Zweitbeste und ich am Mittag vor der Abreise am Hafen von Oneglia noch in der Sonne zu Mittag essen und uns 24 Stunden später im Grau der Großstadt die Frage stellen, wie wir bei dem permanenten Lärm-Pegel hier nur Schlaf finden sollen...

Jetzt hat der große Münchner Stadtbaumeister von eigenen Gnaden in seinem Bemühen um den Job als Landesvater auch noch außer Acht gelassen, dass er die längste Straße Münchens nach dem Bau des Petuel-Tunnels eigentlich zur verkehrsberuhigten Zone machen wollte. Die Spekulanten lachen sich darob ins Fäustchen, und die Neubesitzer von Wohneigentum hier brechen in Tränen aus und werden Ude garantiert nicht wählen. Ein gewaltiger Aufschrei aller  von diesem Verkehrswahn Betroffener bei einer  Bürgerversammlung vor Weihnachten (bis hinunter nach Schwabing und sogar hinauf bis ins neu-noble Neuhausen) offenbarte nur noch Hilflosigkeit gegenüber der Sprunghaftigkeit dieser Städte-Planung.

Nein, ich mache es kurz (- weil mein Nerd-Sohn immer schimpft, meine Posts seien zu lang): 

Wir schlafen gewohnt gut - fast besser als in der Lautlosigkeit der Burg. Unsere Ladenbesitzer vor der Haustür hießen uns nach der viermonatigen Abwesenheit herzlich willkommen und mussten beim Entwickeln von Neidgefühlen wegen unseres privilegierten Lebens sogar sanft eingebremst werden. Auch die Angst vor der Enge war diesmal überraschend schnell überwunden. Und  das Wetter ist ja sowieso - gewohnt - mies.

Es sind ganz andere Anpassungsschwierigkeiten, die uns den einst so angestrebten Wechsel zwischen den Lebensformen vor und hinter den Alpen so erschweren. Auf der Burg können wir uns als "Fremde" aus allem raushalten. Hier dürfen wir das nicht, obwohl wir ja jedesmal mehr fremdeln, wenn wir mit dem unentspannteren Alltag hier konfrontiert werden.

Dabei ist Italien um einiges schlimmer dran als Deutschland. Aber die jungen Leute in Italien, von denen bald jeder Dritte ohne Arbeit ist, gehen wenigstens auf die Straße und protestieren.Vieles wird nämlich südlich der Alpen in Zukunft davon abhängen, ob  der christliche Mario Monti oder eine sozialliberale Regierungsformation es mit der Ankündigung der Fortführung der erforderlichen strikten Sparpolitik schafft, gegen einen eitlen Nabelbetrachter wie Berlusconi an der Urne zu bestehen. Der hat ja bereits angekündigt, er werden Europa das "D" abreißen.

Der so wenig ritterliche Cavaliere wird Wahlgeschenke versprechen, die genau so wenig einzulösen sind, wie die von Rösler, Seehofer und Co.. Aber diese Traumtänzer hier  können sich eben darauf verlassen, dass die zu allem moderiert schweigende Kanzlerin ihren zu recht erworbenen Bonus bei der Wahl in die Waagschale wirft und am Ende obsiegen wird.  Sicher nicht zum Nachteil Deutschlands als Staats- und Wirtschaftsmacht. Zwar hat sie wie niemand seit dem zweiten Weltkrieg einen neuen, weltweiten Deutschen-Hass entfacht, aber das von ihr regierte Land steht da wie eine Eins. - Bei oberflächlicher Betrachtung

Wenn das die Hauptsache ist, wäre es angesagt, sich dieser Erkenntnis anzupassen, die Minijobs und nicht vorhandene Mindestlöhne zu akzeptieren, eine Bildungspolitik gut zu heißen, die uns bei all den Arbeitslosen nur scheinbar nötigt, ausländisches (vorwiegend nicht aus EU-Ländern rekrutiertes und billigeres) Fachpersonal anzuwerben. Dann ist es auch verständlich, dass anders lautende Meinungen ohne weitere Überprüfung auf Sinngehalt niedergebügelt werden.

Eine große Koalition im Herbst 2013 würde genau diese angepasste, kaum mehr zu bewegende Gesellschaft vorantreiben. Ist das der Grund, weshalb Peer Steinbrück scheinbar ungerührt in jedes erreichbare Fettnäpfchen tritt - oder besser - dafür sorgt, dass man aus seinen flapsigen Äußerungen welche macht? Denn einer großen Koalition stünde er ja ganz sicher  nicht zur Verfügung...

Auswirkungen einer Zeit, in der unsere nachrückende Itelligentsia glaubt, sie müsse sich anpassen, um den Job nicht zu verlieren, kann vielleicht jeder mit einer studierten Nachkommenschaft in der eigenen Familie erkennen: Veteranen der "Generation Praktika", unpolitisch und mit einem kompletten Mangel an jüngerem, historischem Background.

Zwischen den Jahren hatten wir eine Diskussion darüber im Familien-Kreis: wieso wir Wirtschaftswunderkinder Ende der 60er des vergangenen Jahrhunderts auf die Straße gegangen seien, wo es uns doch so gut ging und wir uns während der 70er im Job dann so frei entfalten konnten wie keine Generation  zuvor?

Eben drum!