Montag, 29. Mai 2023

Interpunktion

Noch in diesem Monat passiert es: Die Gesamtzahl der Zugriffe auf meine Blogs wird die 200.000 überschreiten. Die Zuwachsraten der gelesenen Seiten im ersten Halbjahr liegen bereits bei über 10 Prozent. Dafür herzlichen Dank liebe Leserinnen und Leser! Das ermutigt mich, weiter zu machen, so lange meine Texte noch halbwegs Sinn machen

Wenn ich in den Blog-Statistiken sehe, dass Leserinnen und Leser aktuell uralte Posts anklicken, bin ich immer neugierig, was die dazu antreibt und was ich da so geschrieben habe. Aber der Neugier weicht oft beschämte Betroffenheit, wenn ich die ganzen Tipp- und Interpunktionsfehler sehe, die mir vor dem Veröffentlichen durch die Lappen gegangen sind. Ich war im Redigieren anderer Texte oft der Retter, aber als Schlussredakteur wäre ich der totale Versager gewesen...

Die zukünftigen Eltern auf Bergtour 1937.
Meine Mutter, Jahrgang 1918 war vielleicht nicht gut
in Interpunktion, aber sie war absolut furchtlos
und jonglierte derart souverän mit den
Familien-Finanzen, dass es nie zu Engpässen kam...
Je älter ich werde, desto öfter verhaspele ich mich jetzt, aber als einstiger Journalistik-Lehrer sollte ich doch zumindest die deutsche Interpunktion halbwegs beherrschen. Aber Pustekuchen! Vermutlich ist es das Anti-Interpunktions-Gen, das ich von meiner Mutter habe. Als sie gerade18 und mit geschafftem Abi den zehn Jahre älteren Rechts-Referendar kennen und lieben lernte, war das fürs Leben.
Für ihn,, der im dritten Anlauf mein Vater werden sollte, war sie in ihren Briefen so voller Leidenschaft entbrannt, dass sie auf Interpunktion wohl keine Rücksicht nahm. Jedenfalls fühlte sich mein in mancher Hinsicht recht pedantische, spätere Erzeuger bemüßigt, ihr in seiner Antwort alle ihre Interpunktions-Fehler vorzuhalten. Jeder heutige Teenager hätte vermutlich den "alten Sack" in die Wüste geschickt. Meine Mutter reagierte so, dass jedem bald klar wurde, wer in dieser Beziehung die Hosen anhaben würde.  Nach säuselig, ironischem Anhimmeln in der Anrede lieferte sie im nächsten Brief nichts als Zeilen voller Punkte, Kommata, Ausrufe- und Fragezeichen mit dem abschließenden Hinweis: "Zur freien Verfügung in meinen nächsten Briefen". 

Die Story wurde immer wieder gerne am sonntäglichen Frühstückstisch ausgegraben, vor allem, wenn ich in Deutsch wegen mangelhafter Interpunktion mal wieder nur ein Ausreichend oder gar Ungenügend nach Hause gebracht hatte.

Bei meiner Lehre zum Verlagsbuchhändler wurde ich in der "Herstellung" beim Umbrechen der oft körperlangen Druckfahnen mit Typometer und hartem Bleistift eigentlich derart in die Mangel genommen, dass die geforderte Sorgfalt und Vorgehensweise für den Rest meines Berufslebens hätte ausreichen müssen: Einfache Krimis und Unterhaltungs-Literatur waren leicht zu umbrechen. 

Als Schusterjungen bezeichnet man
die alleinstehende erste Zeile eines neuen Absatzes,
der auf die nächste Seile umgebrochen wird.
 Im Bild gelb hervorgehoben.

Damit ich "Hurenkinder" und "Schusterjungen" am Seitenkopf beziehungsweise -Fuß vermied, strich ich Wörter oder fügte welche hinzu, um die Absätze aus- oder einzutreiben. Aber bei Klassikern und Autoren, die die Unversehrtheit und Manuskript-Treue verlangten, ging das natürlich nicht. Ausgerechnet wegen einer Taschenbuch-Neuauflage meines geliebten Friedrich Nitzsche und seinem "Also sprach Zarathustra" wäre meine Lehre fast beendet gewesen: Weil ich kühn in einem seiner Aphorismen einen eindeutigen Bezugsfehler korrigiert hatte, um einen Absatz zu vermeiden...

Rutscht dagegen die letzte Zeile
eines Absatzes auf die neue Seite,
so spricht man von einem Hurenkind.
Solche Hurenkinder gelten im Buchdruck
unter Fachleuten als schwere typografische Fehler,
da dadurch der Satzspiegel besonders
 stark gestört wird. Das Hurenkind
 ist gelb hervorgehoben.

Quelle: Word Tipp 5

In solchen Umbrüchen waren Korrekturzeichen eben verräterisch, und der Herstellungsleiter zog mir die Ohren lang, als er mich fragte, was ich unter werksgetreu verstünde...

Alfred Andersch 1914 - 1980:
Im Schweizer "Exil" Nachbar von Golo Mann
und Max Frisch
Wenn Redakteure sich später über die nachlässige Interpunktion in meinen Reportagen und Erzählungen beschwerten, verwies ich in meinen Ausreden auf meine in Englisch publizierten Texte mit entsprechend anderer Satzzeichen-Setzung. Und wenn das nicht reichte, holte ich in typisch buchhändlerischer Klugscheißerei die international gefeierten, literarischen Spracherneuerer Alfred Andersch und Arno Schmidt hervor. Die beiden befreundeten Autoren verwendeten nämlich die Interpunktion nach ihrem Gusto, um vor allen Dingen dem Leser die besondere Melodie oder Betonung ihrer Sätze zu vermitteln. Das machte ich mir beim Schreiben tatsächlich gern zu eigen.

Aber die "Seelenverwandtschaft" zu Arno Schmidt beanspruche ich gerade erst heute im Alter, Nämlich aus einer wie für mich geschaffenen Erläuterung zu seiner Etym-Theorie.

Arno Schmidt 1914 - 1979:
Auf dem Cover seiner Erzählung
"Kühe in Halbtrauer"

Er behauptete, Schriftsteller in höherem Alter könnten zu dieser Sprache des Unbewussten Zugang erlangen und sie gestalten, weil das Über-Ich geschwächt sei – das Es könne wegen der einsetzenden Impotenz seine Triebansprüche ja ohnehin nicht mehr umsetzen. Aus dieser Konstellation ergebe sich eine zusätzliche vierte Instanz seelischen Geschehens: den genialen Schriftsteller, der über die Etyms* die Sprache des Unbewussten beherrsche und der Reflexion des Ichs zugänglich mache.[5(Zitat aus Wikipedia)

https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Arno_Schmidt&oldformat=true#Etym-Theorie

*Etym: Englisch für Abbreviation
Abbreviation: Oder - warum nicht auf Deutsch? - Verkürzung



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen