Montag, 6. März 2023

Weich gespülte Gehirne im Schleudergang

Natürlich kann man mal was vergessen. Ist ja auch schwer, diesem Werbespot gegen die Vergesslichkeit im Alter zu entgehen, wenn die Betroffenen  zu viel TV konsumieren. Wäre das aber alleine ein Altersanzeichen? Die fürsorglichste Ehefrau von allen ist vergesslich, seit sie es mehr als fünf Jahrzehnte an meiner Seite ausharrt. Genauso lang höre ich dann im Anschluss den zwischen uns mittlerweile im Kanon angestimmte Satz: Ich kann's nicht ändern!

Ich selbst erkenne, dass ich immer länger nachdenken muss, um mich vor allem an Namen aus unserem gegenwärtigen Alltag zu erinnern, während ich Gesichter aus längst vergangenen Tagen samt altersbedingter Veränderung sofort zuordne. Jetzt gerade beim Schreiben entfällt mir mitunter, welche Formulierung mir gerade eben noch vorgeschwebt hat. Ich denke dann oft, aus Angst dement zu sein und ob man das Gehirn nicht beizeiten besser trainieren könnte.

Im betreuten Wohnen war meine Mutter immer besonders stolz, wenn sie ihre Altersgenossen*innen bei den hinlänglich bekannten Übungen sogar bis kurz vor ihrem Tod noch abhängen konnte. Ich spiele jeden Morgen am Computer komplizierte Patiencen auf Zeit. Meine Frau löst bis zum zweiten Morgen-Kaffee Sudokus der Meisterklasse. Aber bewahrt uns so etwas tatsächlich vor der Umnachtung?

Halten Sudokus geistig fit?
Quelle: Herbstlust

Je älter man wird, desto häufiger muss sich der Mensch von anderen Menschen verabschieden, deren Veränderungen zu akzeptieren waren, auch wenn ihr Umdenken einem nicht mehr gefiel. Ist die Mär vom "bösen alten Mann" oder der "bösen alten Hexe" in unserer Zeit überhaupt noch gültig?

Aus meinem Umfeld nehme ich immer häufiger wahr, dass die Leute gegen Ende eher schlechten Nachrichten gegenüber hörig werden, als sanft zu akzeptieren. wie gut sie es dennoch haben, Ein Schwager ist seit bald zwei Jahren dement und wird nicht nur von einem Pflegedienst, sondern vor allem von seinen Schwestern in der eigenen Wohnung hingebungsvoll betreut. An seinen schlechten Tagen lässt er seine Wut an allen aus, die ihm gutes tun wollen. Ein anderer Wegbegleiter wurde bis zu seinem Tod selbst seiner schwer erkrankten Frau gegenüber immer wütender und betete mir gegenüber Verschwörungstheorien regelrecht herunter

Seit dem rätsele ich, ob ich dereinst der in mir angesammelten Wut noch Herr werden kann. Nach Oscar Wildes Ebenezer Scrooge benenne ich das  die Angst vor "Verscroogung". Ich erlebe solche Betroffenen beinahe täglich "als Stimmen von der Straße" in den Nachrichten-Sendungen. Ältere Herrschaften, die ja eh nichts mehr verändern können, lassen sich von Narrativen in eine Wut zu Demos treiben, was dann als Volkes Stimmer interpretiert wird. Und das ist beileibe keine Frage der Bildung.

10 Prozent Hirn-Nutzung sind genauso ein Märchen
wie Scrooge und seine Weihnachtsgeister
Quelle: JustWatch

Mich ereilte an meinem Geburtstag letzte Woche ein Anruf aus Abu Dhabi. Einem alten Bekannter war eingefallen, dass er mir nach einer Runde Golf zwischen den Architektur-Monstern und einem Abendessen mit Fisch und Schalentieren noch kurz gratulieren wollte. Aber stattdessen hörte ich eine Schimpf-Tirade, wie ich sie noch nie bei ihm erlebt habe:
Der Deutsche Mittelstand verschwände, die ganze Welt lache über Deutschland wegen der Umweltpolitik. Und was sei überhaupt eine feministische Außenpolitik. Dieser Habeck wolle, dass er in allen seinen Mietshäusern in zwei Jahren neue Heizungen installiere, und der Krieg der Russen habe doch gar nichts mit unserem Niedergang zu tun.

Dann hörte ich aus dem Hintergrund die Stimme seiner Frau: "Wolltest du ihm nicht zum Geburtstag gratulieren?"

Vermutlich habe ich in einem meiner frühen Posts mal darüber geschrieben, dass ich in meinen Sturm- und Drang-Jahren mit einem weltbekannten Hirn-Forscher und Pathologen in einer Haugemeinschaft gewohnt habe. Ich - als "Steuerzahler" - verlangte, dass er doch alle Ergebnisse seiner Forschung öffentlich machen müsste, während er darauf bestand unter dem Aspekt der "freien Forschung" bestimmte Erkenntnisse mit ins Grab zu nehmen: "Wenn ich alles veröffentlichte, zu dem das menschliche Gehirn im Stande wäre, käme es zu einer Panik."

Damals schon widersprach er dem Mythos, der Mensch benütze nur einen zehnprozentigen Teil seiner Gehirn-Kapazität - unterfordere es demnach geradezu. Die moderne Magnetresonanztomografie widerlegt die Legende mittlerweile wissenschaftlich, denn wenn Zellen im Gehirn nicht gebraucht werden, stürben sie ab. Wieviel ein Gehirn an Leistung hergibt, entscheiden individuell allein und genetisch die Lernfähigkeit und das Tempo sowie die Länge des Alterungsprozesses.

Zellen, die in betroffenen Zonen nicht mehr nachwachsen:
Zellverlust bei Demenz und Alzheimer
Quelle: FAZ



Jener Professor beschrieb das damals in etwa so: Der Ruhestand sei eine Art Weichspüler für das Gehirn, bevor das Altern ihm einen möglichen Schleudergang verpasst. 


Ach ja! Wer sich in echt mit dem Zustand des deutschen Mittelstandes vertraut machen will. Hier drei Links zu aktuellen Untersuchungen:

https://die-deutsche-wirtschaft.de/das-ist-die-lage-im-deutschen-mittelstand/#:~:text=Die%20Lagebewertung%20im%20Mittelstand&text=So%20ist%20das%20deutsche%20Bruttoinlandsprodukt,%2C6%25%20gegen%C3%BCber%20dem%20Vorjahresmonat.

https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Unternehmen/Kleine-Unternehmen-Mittlere-Unternehmen/_inhalt.html

https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Unternehmen/Gewerbemeldungen-Insolvenzen/Tabellen/lrins01.html#242428



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