Montag, 25. Mai 2020

Betroffen

Schreiben ist jonglieren mit Worten und Gedanken. Je mehr davon auf einmal in der Luft sind, desto schneller kann es passieren, dass sie beim geordneten Niederschreiben ihre Begrifflichkeit verändern oder gar verlieren. Beinahe täglich zwingt mich das, vollkommen neu über Worte und ihre Stämme nachzudenken. In diesen Tagen wird jeder, der sich sorgt, mit der Betroffenheit konfrontiert.

Zunächst: Betroffenheit hat nichts mit betroffen Sein und schon gar nichts damit zu tun, dass die dazu gesprochenen Bemerkungen "betrefflich" sind.

Ein Beispiel: Unsere Spitzenpolitiker waren in der heißen Phase der Pandemie tief betroffen vom unermüdlichen Einsatz des Krankenhaus-Personals und der Pflege-Kräfte in Heimen. Aber ich wette meinen Schlapphut drauf, dass sie das bald nicht mehr betrifft und sie die versprochenen wirtschaftlichen Verbesserungen und zumutbare Arbeitszeiten auf dem Altar der Haushalts-Defizite opfern müssen. Wie ließ Brecht in seiner Dreigroschenoper zynisch trällern: "Erst kommt das Fressen dann die Moral!"

Quelle: evangelische zeitung.de
Geben wir es zu: So richtig betroffen sind wir doch nur, wenn es jemanden erwischt hat,  der uns nahe steht. Ansonsten üben wir uns in der von der Nachrichtenlage initialisierten "kollektiven Betroffenheit", die sich im Entzünden von Friedhofs-Lichtern und Niederlegen von verschweißten Blumensträussen für Menschen äußert, die wir andernfalls nie wahrgenommen oder gar gemieden hätten. Ein paar Tage später kommt - wie profan - die Müllabfuhr.

Früher haben Geschäfts-Briefe mit einem "Betreff" begonnen, damit der Empfänger sofort vor dem Lesen des darunter Stehenden, wusste, worum es geht. Heute fällt man per fett gedruckter Zeile  bestehend aus Aktenzeichen und Schlagworten mit der Tür direkt ins Haus. Kurioserweise hält das Mail-Programm auf meinem Computer an dieser altmodischen Chiffre fest.

Vielleicht sollten wir alle in diesen Zeiten unsere tatsächliche Betroffenheit ehrlich auf die Waagschale legen. Dann werden wir zugeben müssen, dass wir schon wieder an Urlaub denken und Reisepläne schmieden, während andere, die ihren Job verloren haben, oder auf unbestimmte Zeit auf Kurzarbeit fixiert worden sind, gar nicht wissen, wie sie demnächst über die Runden kommen werden.
Zahlen aus einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums
über die Betroffenen in Sparten unseres
Kulturbetriebs

Natürlich sollen und müssen die reisen, die es sich noch leisten können und ihr neues Auto für den Trip auch schon bestellt haben. Denn zur Rettung der europäischen Einheit und zum Wohle der Wirtschaft müssen wir jetzt konsumieren bis die Schwarte kracht, damit Schulden aufgenommen und Kredite wieder zurück gezahlt werden können.

Bei der nächsten Pandemie wird nicht alles anders, weil sich an diesem Kreislauf nie etwas ändern wird. Weil die Menschheit viel zu viel erreicht hat, um diese Errungenschaften dann wirklich auf Dauer für einen Lerneffekt aus kurzlebiger Betroffenheit aufzugeben...
Quelle: agid.de

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen