Mittwoch, 1. März 2017

Tagebücher

Ein schlauer Kopf, der vermutlich weder Psychater noch Psychologe war, meinte einmal, dass einem das Schreiben im Tagebuch Couch und Analyse ersparte. Ist der Tagebuch-Schreiber mächtig oder berühmt gewesen, freuen sich die Erben, weil sie dann dessen intimste Gedanken und Erlebnisse durch Veröffentlichung zusätzlich versilbern können. Das wiederum erfreut die Analytiker, die dann jedes geschriebene Wort posthum auf die Goldwaage legen. Woody Allen hat das einmal in seinem Buch "Without Feathers" ordentlich auf die Schippe genommen, indem er auch Einkaufszettel und Wäscherei-Listen eines fiktiven Prominenten intellektuell zerpflückte.

Vorsicht also, wer versäumt, ein Veröffentlichungs-Verbot zu testieren (siehe Franz Kafka).

Die Tagebuch-Schreiber vertrauen ihren Analen aber durchaus Dinge aus unterschiedlichsten Gründen an:

Meine Mutter zum Beispiel ließ sich jedes Jahr zu Weihnachten ein kleines Notizbuch im halben A5-Format mit Jahreszahl drauf schenken. Tagtäglich notierte sie in ihrer nahezu unleserlichen Schrift gnadenlos in Stichworten, was vom Tage übrig blieb. Wenn in der Familien-Runde darüber gerätselt wurde, was, wann und wieso passiert war, reichten ihr die diffusesten Anhaltspunkte. Sie holte einen Karton heraus, indem alle ihre Notizbücher eingeordnet waren. Das nervte alle, die es nicht so genau wissen wollten.
"Was sagt ihr? Wann Claus seinen Riesen-Furunkel auf der Nase hatte, der sogar im Dunkeln geleuchtet hat? Hier steht es: 5 Juni 1955." Es war weniger die geschichtliche Präzision, als der überlegene Gesichtsausdruck, mit dem sie das Ergebnis verkündete. Manchmal kämpfte man gegen das Verlangen, den Karton anzuzünden.

Im Tagebuch-Nachlass meines Großvaters entdeckte ein Historiker neben Weltbewegendem auch militärisch Straffes, wie es Ausbildung und Stellung von ihm verlangten:
"Mömi (Spitzname meiner Oma) mit dem Signalhorn vom Ausritt zum Mittagessen beordert..."

Ich selbst hatte deshalb nie das Verlangen, Tagebuch zu führen. Bis zum Computer-Zeitalter und die Entdeckung Friedrich Nietzsches durch eine Mitarbeiterin habe ich noch nicht einmal Veröffentlichungen von mir gesammelt. Umso peinlicher, dass sie jetzt vielfach im Internet als Ramsch angeboten werden.

Die fürsorglichste Ehefrau von allen hat jedenfalls erst nach unserer Hochzeit mit dem Tagebuch-Schreiben aufgehört und die Büchlein dann irgendwie verschlampt. Weshalb wir immer noch darüber streiten, wann sie mich zum ersten mal geküsst hat, weil ich zu schüchtern war.
Sie ist dann  ersatzweise dazu übergegangen, von allen wichtigen Vorkommnissen kleine Erinnerungsstücke zu sammeln.
Mit unseren Kindern geht sie dann Kartons aus dem Keller durch, die neben dem muffigen Geruch
auch nostalgische Sentiments freisetzen. Was einer der Gründe ist, weshalb ich nichts aufhebe.
Das hätte mir auch erspart, dass die Kids über meine handgeschriebene Geschichten gestolpert sind, die meine Frau heimlich aufgehoben hat.

Gestern fand ich sie heulend im Kerzenschein sitzend, weil sie die Weltreise-Tagebücher meine Eltern ausgekramt hatte. Und schon ging sie los, die Reise in die Vergangenheit und die Tränen versiegten nicht.

Mein Gedächtnis ist noch ein wenig besser als das meiner viel viel "besseren Hälfte". Und deshalb weiß ich genau, dass ich morgen vor 50 Jahren zum ersten Mal tief in ihre blauen Augen geschaut habe. Es war aus meiner Sicht Liebe auf den ersten Blick - auch wenn es noch gedauert hatte, bis sie mich im Juni zum ersten mal geküsst hat
...

Für diese Erinnerung brauche ich kein Tagebuch.

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