Samstag, 5. November 2011

Zeit-Reise 1: Vor den Vorurteilen

Als Neun- beziehungsweise Elfjähriger bereiste ich zweimal mit meinen Eltern sehr ausgiebig die Türkei. Ein Jahr nach der zweiten Reise kamen die ersten so genannten Gastarbeiter im Rahmen des Anwerbe-Abkommens, dessen 50jähriger Geschichte vergangene Woche in diversen Festakten gedacht wurde...

Ich war also schon bei den Türken, bevor diese zu uns kamen und gut anderthalb Jahrzehnte bevor der Flug-Tourismus an die türkischen Riviera mit rapide wachsender Beliebtheit aufgenommen wurde.
Nun mag man meinen Erinnerungen vielleicht vorhalten, sie seien durch ihre naive Perspektive nicht authentisch genug. Aber gerade dadurch wären sie ja mit den naiven Vorstellungen kompatibel, die die ersten Gastarbeiter von unserem ach so gesegneten Land hatten. Ich möchte das in dieser kurzen Serie von Posts an für beide Kulturkreise gültigen Begriffen festmachen, wobei ja schon am Wort Kultur Diskrepanzen deutlich wurden.
Während ich eben keinen Kulturschock erlebte, weil ich von gut vorbereiteten Eltern auf ein einzigartiges, bis heute fest im Herzen verankertes Abenteuer mitgenommen wurde, überließ man die migranten Lohnsklaven, die als arme aber stolze Männer aus den türkischen Provinzen an unseren Bahnhöfen ausgeladen wurden, kaum vorbereitet sich selbst.

Gastfreundschaft:

Jenseits von Istanbul und dem Bosporus war man damals höchstens noch in der Hauptstadt Ankara und in der Nähe der US-Stützpunkte auf Reisende aus dem Westen vorbereitet. Immerhin war in den Zeiten des Kalten Krieges die Türkei mit dem größten, stehenden Heer im Osten das Bollwerk der Westmächte gegen den Kommunismus. Meinem Vater, einem hohen Bundesbeamten mit Hintergrund, bot das zwar logistische Anlaufpunkte aber verlangte auch argwöhnisch von "unseren Leuten" geforderte Meldeauflagen. Die meiste Zeit ratterten wir deshalb abseits der wenigen asphaltierten Hauptverkehrsstrecken über Schotterpisten, für die es kaum oder nur einheimisches Kartenmaterial gab.
Mit der gleichen Unbekümmertheit, mit der meine Eltern bei jedem Halt auf die Einheimischen zugingen, umfingen die uns mit einer fürsorglichen Gastfreundschaft deren Ablehnung aus Verlegenheit nur als Beleidigung empfunden worden wäre. Wir redeten also mit Händen und Füßen oder hatten im Zweifel unsere kleinen Wörterbücher. Irgendwie gab es selbst auf dem Land auch mal einen Dorfschullehrer mit Fremdsprachen-Kenntnisssen oder einen Dorfältesten mit höherem Schulabschluss. Mit türkischer Geduld löste sich beinahe jede Sprachbarriere. Im Rückblick kann ich mich auch an keine Hemmnisse bei den vor Ort ständig wechselnden Spielkameraden erinnern. Die Weltsprache Fußball tat ihr übriges. Ein Ball fand sich immer.
Wenn es keine Karawansereien wie in den größeren Orten gab, schlugen wir unsere Zelte auf Anfrage in der Nähe von Tankstellen auf, was häufig spontan regelrechte Straßenfeste mit gegrilltem Hammel und Maiskolben bis zum Abwinken auslöste.
Obwohl meine beiden Schwestern schon junge Frauen waren und meine füllig großgewachsene, blonde Mutter vermutlich ein Sexsymbol für die meisten orientalischen Männer darstellte, war der Umgang, der normalerweise ja nicht mit Frauen feiernden Männer stets ritterlich respektvoll, und es kam niemals - auch auf späteren Reise nicht - zu irgendwelchen heiklen Situationen in Form von Ablehnung, wie das "Neu-Islamisten" ja hier und heute bisweilen für angebracht halten. Mein Vater, ein Postkarten schreibender Freundschafts-Pfleger der alten Schule, hatte noch Jahrzehnte zu einigen dieser Zufallsbekannten regen  Kontakt.

Was aber  war zum Beispiel in München aus diesen herzlichen, heiter tanzenden Männern aus der stolzen Türkei geworden? Wurden sie wirklich "Gast"-Arbeiter? Also wie Gäste behandelt?
Wegen chronisch schlechter Noten hatte ich inzwischen auf dem Gymansium Ganztagsunterricht. Das bedeutete, dass ich abends mehrere Jahre einige Stationen Busstrecke gemeinsam mit den vor Erschöpfung grauen, schlecht rasierten und ungesund riechenden Männern zurücklegte. Anfangs versuchte ich noch mit meinen frischen Türkisch-Kenntnissen kleine Konversationen anzufangen. Die Männer, die ich in der Türkei getroffen hatte, wären hemmungslos und humorvoll über alle Sprachbarrieren hinweg darauf eingestiegen. In dem deutschen Bus stieß ich bei denen nun jedoch zunehmend auf tief in den Augenhöhlen sitzenden Argwohn. Zumal ich an einer Haltestelle ausstieg, von der ich ins Bogenhausener Grüntal gelangte, während sie zu ihren fragwürdigen Unterkünften jenseits der Endstation in Unterföhring weiterfuhren. Angeblich - so hieß es immer - wollten sie selbst diese Art von Behausung, um möglichst viel gespartes Geld in die Heimat zu schicken. Tatsache war aber, dass sie nicht selten für diese engsten Mehrbett-Löcher auch noch skrupellos abgezockt wurden...

In dem Maße, in dem ich meine Kontaktaufnahme einstellte, spürte ich aber, wie sich in den öffentlichen Verkehrsmitteln auch ohne Schilder eine Art Appartheit einstellte. wie die Einheimischen zusammen- oder abrückten, wenn Gastarbeiter mitfuhren. Der einzige Ort, an dem sich diese Männer, die wir für den Aufschwung ja so dringend gebraucht haben, über Jahre nicht ausgegrenzt fühlen mussten, war der Hauptbahnhof. Selbst als ich bereits Ende der 60er Jahre als Verlagslehrling wichtige Druckfahnen mit dem Zug zur Druckerei nach Augsburg bringen musste, war das immer noch so. Von Integration nichts in Sicht.

Vielleicht schon vergessener aber großartiger Lesestoff zu diesem Thema: Sten Nadolnys "Selim oder Die Gabe der Rede".

Von mir hier demnächst: Zeit-Reise 2 Religion

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