Samstag, 26. November 2011

Ein lebender Adventskalender

Ist man je zu alt für Adventskalender? Meine Kinder - beide in den 30ern - freuen sich immer noch jedes Jahr darauf, dass ihnen ihre Tante einen aus vierundzwanzig winzigen, durchnumerierten Päckchen minuziös arangierten Begleiter durch die Vorweihnachtszeit vorbei bringt.
Mir gefällt der Kitsch der silber bestäubten Törchen in den verschneiten Stadtbildern, mit dem versucht wird, eine Art Nostalgie nach einer Weihnachtszeit auszulösen, wie es sie so ja längst nicht mehr gibt. Und wenn es sie  je gegeben hat, dann auch nur suggeriert durch Andventskalender unserer Kindheit.

Dabei entdecke ich in mir von Jahr zu Jahr mehr Wesenszüge von Ebenezer Scrooge, jenem zunächst so hartherzigen Festtagsmuffel aus der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens...
Mir kann der ganze Konsumrummel und der Deko- und Tonberieselungswahnsinn gestohlen bleiben. Der erfährt doch seine absurde Potenzierung sogar noch dadurch, dass quasi an jeder Ecke in dieser Stadt ein Chritkindlmarkt lauert, dessen Besuch geradezu zwanghaft neurotisch zum Kulturgut stilisiert wird.

Im vergangenen Winter hatte aber dann offenbar einer von den "Geistern vergangener Weihnachten" seine Hände im Spiel:
Ich saß hier im Glashaus im Dunklen und dachte voller Wut an die zwei zurückliegenden Jahre voller Gerichtsverhandlungen und Räumungsklagen, an die völlig verwüstete Wohnung, die die Nomaden zurückgelassen hatten sowie das Loch, dass die Renovierung in unsere Altersversorgung gerissen hatte. Ich hatte die stillen Berg-Weihnachten in unserem ligurischen Burgdorf auch zu sehr genossen, um mich nun hier irgendwie in Stimmng bringen zu können...

Unserer Wohnzimmer-Fensterfront gegenüber liegt auf der anderen Seite ein Appartementhaus, das in erster Linie von Singles bewohnt wird. Ein schmuckloser, grauer Klotz mit Einzimmer-Appartements und sehr häufig weschselnden Bewohnern. Von meinem Sessel aus sehe ich genau vier Etagen mit je sechs Fenstern. - Ahnt ihr schon etwas?

Den ganzen Tag war es nebliggrau und regennass, aber dann begann es mit der einsetzenden Dämmerung zu schneien. Anfangs ganz dicke, langsam sinkende Flocken. Schnee der zunächst nicht liegenblieb, um sich bald dann als matschiger Brei auf die Straßen und Gehwege zu legen. Schließlich brach ein regelrechter Schneesturm los. Die Flocken tanzten dicht vor der grauen Wand und die verkehrsreiche Kreuzung wurde wegen der sofort einsetzenden Glätte nur noch im Zeitlupentempo überquert.

Dann leuchtet drüben das erste Viereck eines Fensters auf. Dann zwei, dann drei, dann vier - in verschiedenen Stockwerken, ohne System und in ganz verschiedenen Farben; je nach Beleuchtung oder  zugezogenem Vorhang. Ja, da war auf einmal ein lebender Adventskalender. Denn nicht alle Bewohner verschwanden hinter Gardinen. Es schien, als ließen viele den Blick nach draußen offen, um selber an dem Wintermärchen teilzunehmen. Damit ich nicht wie ein Voyeur im Dunklen saß, gewöhnte ich mir an den folgenden Abenden an, mich ganz offen hinter meine von Girlanden beleuchtete Fensterfront zu setzen.

Es war wirklich spannend, jeden Tag in diesem Alltagsadventskalender eine anderes Fenster zu öffnen (beobachten):

Die Zweite von links oben war eine Cellistin, die entweder für ein Konzert oder eine anstehende Prüfung übte. Ich sah vor einer bernsteinfarbenen Fläche nur ihren anmutig geneigten, sich wiegenden Kopf und den Hals ihres Musikinstrumentes. Die Dritte von unten rechts hatte einen Buddha auf der Fensterbank. sobald sie nach Hause kam, entzündete sie Räucherstäbchen und faltete für einen meditativen Moment die Hände vor der Brust. Das blassblaue Fenster direkt auf Blickhöhe gegenüber wurde von Männern in wechselnder Zahl bevölkert, die offenbar gemeinsam an einem Computer-Problem tüftelten. So ließ  sich zumindest die Pantomime an wechselnden Tagen interpretieren.
Ich bin sicher, es gab ein paar Engel in diesem lebenden Adventskalender, die ahnten oder wussten, dass sie sich der Beobachtung aussetzten, denn es wurde gelegentlich auch etwas exhibitionistisch.

Aber viel interessanter war, wie sich das ganze auf Weihnachten zu atmosphärisch verdichtete. Da tauchten Kerzen auf den Fensterbänken auf oder kleine elektrische Weihnachtsbäume. Und natürlich durften auch die unseligen, Fassaden kletternden Weihnachtsmänner nicht fehlen, die sich ja leider noch schneller vermehrt haben als die Christkindl-Märkte.

Kurz vor Weinachten waren - wie sich das gehört - fast alle Fenster erleuchtet und man ahnte hektische Betriebsamkeit. War das Kofferpacken?

An Heilgabend nämlich war der lebende Andventskalender wieder der dunkelgraue Betonkasten. Alle Fenster blieben dunkel. Traurig, aber irgendwie doch wieder  versöhnlich. - Eine schöne Vorstellung, dass wohl keiner meiner Nachbarn alleine hatte feiern müssen!

Mal sehen, wie es in dieser Adventszeit wird. Viele sind nicht mehr da. die Cellistin wurde noch vor Neujahr von einem jungen Mann abgeholt. Die Buddhistin ist vielleicht in die Heimat zurück. Der junge Mann mit der Playmobil-Frisur, der beim Rauchen auf dem Dach immer ein Mädchen traf, das offenbar den gleichen Friseur hatte, ist vielleicht mit seiner Mitraucherin in etwas Größeres umgezogen. Aber dass die Nachtschwärmerin ihren selbst bei größter Kälte nur mit einem String bekleideten Po nun wohl andernorts herzeigt, bedeutet für das diesbezüglich  langweilige Leben eines älteren Herren, doch einen gewissen Verlust.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen