Montag, 15. April 2019

All die schönen Erinnerungen

Mein Vater, der zwei Weltkriege er- und sie mit nur einem Oberschenkel-Durchschuss überlebte, vertrat die These, dass der Mensch generell Traumata überwinden könne. Und zwar weil sein Gehirn so eingerichtet sei, dass Schönes doppelt so intensiv gespeichert werde wie Schlimmes, das ihm wiederführe.
Zu jeder Erinnerung bei den vielen Reisen
gab es mindestens ein Dia, und
mein Vater hielt mit ihnen auch Vorträge

Auch meine Mutter schwelgte gerne in Erinnerungen. Sie verlor dann - nachdem mein Vater gestorben war und sie die  Erlebnisse mit ihm gemeinsam nicht mehr aufrufen konnte - Tag für Tag ihre einst unglaubliche Dynamik. Aber sie hatte alles was ihr das Leben an Schönem bescherte unauslöschlich bis zum buchstäblich letzten Atemzug gespeichert. So schwärmte sie immer noch von einem Weihnachten im Krieg, bei dem mein Vater auf Front-Urlaub für seine kleine Familie (meine zwei Schwestern waren da ja schon geboren) irgendwie einen Weihnachtsbaum besorgt hatte. Der aber war viel zu groß für das auf halbem Weg angemietete Zimmerchen gewesen, in dem sie zusammen feiern wollten. Also wurde der Baum oben und unten gekürzt und hatte eigentlich nur eine Etage, die mit den wenigen Notfall-Kerzen und Folien aus Zigaretten-Packungen geschmückt wurde. Für meine Mutter war die Erinnerung an jene Weihnachten schöner als alle späteren in Gesundheit, Frieden und wieder erworbenem Wohlstand gefeierten.

Es gab in einem Album ein Foto von diesem Baum, der ohne diese Geschichte einen trostlosen, eigentlich lächerlichen Anblick bot.

Reisen mit den Eltern hieß jeden Tag
das Zelt an einem anderen
Ort aufzustellen. Ohne die vielen
Weltklasse-Restaurants, die ich später
besuchen "musste", sähe
meine Figur vielleicht heute noch so aus
Ich schäme mich gelegentlich, weil ich spontan solche prägenden Erinnerungen nicht gewichten könnte. - Wenn ich von der Geburt meiner Kinder und Schlüssel-Momenten in ihren Leben zum erwachsen Werden einmal absehe. Dabei bin ich doch immer schon sentimentaler als mir gut tut.

Wie oft bin ich gefragt worden, welche Reise-Erlebnisse die schönsten Erinnerungen gezeitigt hätten. Ich bin aber nicht in der Lage dazu, weil über diesen Erinnerungen die jeweils ungebremst erlebte Veränderung der Welt lagert.

Gestern fand der Tausendste Formel 1-Grandprix in Shanghai statt. Ausgerechnet in der Stadt, in der ich 1986 als Symbol für Chinas Öffnung zur Welt einen Führerschein machen und mit dem jungen, gleichaltrigen Bürgermeister, der später Erster Vorsitzender wurde, auf Brüderschaft trinken durfte. Damals war Shanghai ein "Dorf" mit historischem Zentrum und auf der Nanking-Road fuhren überwiegend Radfahrer. Heute ist Shanghai Utopia und im Vergleich zu früher nicht mehr wieder zu erkennen.
Die Naking-Road 1986
Foto: Claus Deutelmoser
Der Bulle bei den "Bullen"
zur Führerschein-Prüfung
Foto:Gerold Jung

Tatsächlich sind es die unschuldigen Reise-Erlebnisse der Kindheit, die bei mir als schöne Erinnerungen heute am ehesten präsent sind. Die paar Dramen in meinem Leben sind gemessen an dem, was andere durchmachen oder durchmachen mussten, nicht der Erwähnung wert. Also kann ich die These meines Vaters in  Ermangelung  solcher (dem Schicksal sei Dank) auch nicht recht nachvollziehen.
Nanking-Road 2019
Fußgänger-Zone und
Mega-Shopping-Mall
Foto: Trip Advisor

Wie wird es bei meinem Enkel sein, der in der Ära des Smart-Phones mit all den elektronischen Fotos und Videos zum am besten dokumentierten Familien-Mitglied werden wird? Wird er das Abenteuer des Blätterns im Album überhaupt kennen lernen?

Wieder geht ein München-Aufenthalt mit vielen Veränderungen zu ende. Vermutlich ist es das Alter, das mich zunehmend Veränderungen fürchten, das aber auch die Sehnsucht nach dem Burgberg in Ligurien von Tag zu Tag wachsen lässt...

Es ist daher Zeit für den Blogger, Abstand zu gewinnen und den Oster-Urlaub anzutreten.

So die Macht des Schicksals es will, erhaltet ihr - liebe Leserinnen und Leser - ab dem 6. Mai wieder Briefe von der Burg. Bleibt mir bitte gewogen.

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