Mittwoch, 26. Oktober 2011

Das Ende einer Karawane

Wer die Muße hat in menschliche Mikrokosmen einzudringen, trifft mitunter auf ein physikalisches Phänomen. Mag unser Erdball noch so sehr von Katastrophen erschüttert und seine Umdrehungen in der globalisierenden Hatz beschleunigt werden, es stört die Langsamkeit der kleinen Kreise nur, wenn sie unmittelbar betroffen sind...
Als könne die Konzentration auf das Selbst die Betroffenheit abschwächen!

Es hat mich dennoch wieder verblüfft, dass sich das beinahe ausgestorbene ligurische Bergdorf und eine der verkehrsreichsten Kreuzungen in der Bayerischen Landeshauptstadt unter diesem speziellen Gesichtspunkt so ähneln.

An einem wundervollen Herbsttag haben wir den Wechsel ins Winterquartier vorgenommen. Berlusconi hatte bei unserer Abreise gerade seine einundfünfzigste (das muss ich einfach ausschreiben) Vertrauensfrage im Parlament überstanden, und daheim schmollte der Seehofer, weil ihn die Schlaumeier Schäuble und Rösler mit ihren wieder einmal glaubenstechnisch zur Unzeit angekündigten Steuererleichterungen wahltaktisch ausgetrickst hatten.
Überschwemmungen in Thailand, Wulff betroffen in Fukushima, Erdbeben in der Türkei, die Kanzlerin und der französische Premier unter dem Euro-Rettungsschirm, der bei der ersten Finanzbö umschlagen und sich die Speichen verbiegen wird. Rekordverschuldungen überall. Griechenland, sich an den Abgrund klammernd. Nichts scheint auf der Welt noch zu funktionieren oder voranzukommen.

Aber dann diese Fahrt: mühelose 800 Kilometer über gepflegte Autobahnen durch einzigartige Landschaften ohne jeglichen Grenzstau. Allenthalben die neuesten Automodelle unterwegs und die Restaurants trotz immer saftigerer werdender Preise bestens besucht. Wie kann denn Europa überhaupt noch derart funktionieren?

Europa funktioniert, weil die Europäer trotz seiner Politiker funktionieren. Die Krisen sind nicht volksgemacht, sondern verursacht durch eine giergesteuerte Scheinprosperität. Entstanden aus dem Zusammenspiel von Gewählten und Auserwählten, die die fabelhafte aber gänzlich undemokratische Formel schamlos umsetzen, nach der Verluste sozialisiert, Gewinne aber egoistisch und oft auch noch steuerbegünstigt kapitalisiert werden.

Das antike Griechenland hat uns das Prinzip des regierenden Volkes vor langer Zeit als Kulturgut beschert, um es dann selbst auf der Müllhalde der Geschichte verrotten zu lassen. Fast 2000 Jahre hat der Westen gebraucht, um hie und da den Anflug von Stabilität in einige Demokratien zu bringen. Aber mit welcher Nachhaltigkeit? Obwohl das Wahlrecht erst seit zwei Jahrzehnten zurück erlangt, verzichtet in manchen neuen Bundesländern und im benachbarten Polen bereits jeder zweite Wähler auf dieses Privileg zur Urne gehen zu dürfen. Der Grund: Reine Frustration angesichts der sich nicht wirklich verändernden Verhältnisse.

Das Ende einer Karawane  Oil on Canvas


Im hiesigen Mikrokosmos traf ich gleich Saladin, den Chef des nordafrikanischen Supermarktes in unserer Straße.
Vor einem halben Jahr war das Gesicht des Tunesiers hinter seinem Dreitagebart noch grau und eingefallen, aber nun strahlte er frisch rasiert und hoffnungsfroh, denn am Sonntag durften er und seine hier lebenden Landsleute erstmals gemeinsam mit denen daheim wählen. Die enorme Wahlbeteiligung hat die ganze Welt überrascht. Saladin erzählte mir, dass es seiner einst verfolgten Familie inzwischen wieder ganz gut gehe und dass sich auch schon deutlich etwas verändert habe...

Der gelüftete Schleier      Oil on Canvas
Inzwischen ist klar, dass die Islamisten, die unverhohlen eine Verfassung unter Einbeziehung der Sharia anstrebten, wohl im  verfassungsgebenden Gremium eine deutliche Mehrheit erlangen werden. Was wird dann aus der aufkeimenden Hoffnung jener Tunesierinnen, die Schulter an Schulter mit den Männern demonstriert und ihr Leben riskiert hatten?
Was ist auch aus den Hoffnungen der Ägypter geworden? Und was hat die Empörung über die syrische Staatsmacht den Demonstranten gebracht, auf die immer noch geschossen wird und die in Fußballstadien zusammengepfercht auf ihre Anführer warten, die derweil in öffentlichen Krankenhäusern gefoltert werden?
Wer das biographische Werk des in Deutsch schreibenden syrischen Erzählers Rafik Shami liest, erkennt, dass es für den arabischen Raum kaum eine Hoffnung gibt, solange die Emanzipation der Frau nicht nachhaltig gefördert und dann auch geschützt wird.
Die Obamas und Camerons dieser Welt mögen uns zwar weißmachen, dass die Tötungen Bin Ladens und Gaddafis den Terror geschwächt haben. Aber die rückwärtige Kraft der Sharia wurde durch das lynchjustiziäre Vorgehen von Staatswegen in beiden Fällen wohl eher moralisch gestärkt.

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