Ich gestand ihm, dass ich gewissermaßen über sie stolpere - im physischen wie im übertragenen Sinne. Ich müsse nur aufpassen, dass sie nicht zu groß seien, damit sie nicht wirklich Schaden anrichten. Oft sei es auch so, dass ich durch die Gegend trottele und überhaupt keinen fände, was zu großer Seelen-Verstopfung führe...
So war es mal wieder vorgestern Abend. Meine Frau war früh zu Bett gegangen, weil sie ihre innere Uhr immer noch nicht auf die Winterzeit eingestellt hat. Ich saß hinter der Panorama-Scheibe des abgedunkelten Wohnzimmers und dachte darüber nach, dass so eine Glashaus-Fassaden-Gestaltung eigentlich dem klassischen Voyeurismus enorm Vorschub leiste. Als hätte der moderne Mensch nicht schon genug Gelegenheit zum neugierig Beobachten. Jetzt gibt es sogar schon einen "Hashtag: #Gaffen geht gar nicht!" Weil Polizei, Feuerwehr und Notärzte es immer schwerer haben, wegen der sich stauenden Schaulustigen rettend zu den Opfern vorzudringen.
Es ist eine der Ursünden, dass der homo sapiens seine neugierigen Augen nicht vom Tun anderer abwenden kann. Bei panem et circenses in den antiken Arenen war das öffentliche Gladiatoren-Schlachten sogar ein gezieltes Politikum. Der Begriff "Schlachtenbummler" wurde ja auch nicht erst für den Sport erfunden, sondern bezeichnete hochgestellte Herrschaften, die mit Entourage zur Belustigung dorthin fuhren, wo Heere einst diszipliniert in "Block-Abfertigung" hin geschlachtet wurden. Sogar im später ausufernden amerikanischen Civil-War war das noch der Fall.
Da könnten wir in der Jetztzeit leicht auf den Gedanken kommen, dass in die Fenster anderer zu gucken, schon eher eine lässliche Sünde sei.:
Da unsere Wohnung über den meisten anderen in der Nachbarschaft liegt, verzichten wir seit einigen Jahren auf Vorhänge. In unserem Alter und mit unseren verlotterten Körpern sind wir ganz sicher kein Anreiz mehr für voyeuristische Verrenkungen. Aus unseren Fenstern ist es jedoch genau umgekehrt. Wir bekommen das Leben der anderen gewissermaßen beim entspannten Sitzen aufgedrängt. Da fällt es schwer, weg zu schauen. Meine Frau weiß genau, wo Umzüge stattfinden, renoviert wird oder Kinder auf die Welt kommen. Sie registriert aber auch jede soziale Veränderung, weil sie ja den Rundum-Blick hat.
Ich starre nur nächtens auf die Luxus sanierten Wohnungen gegenüber. Visavis wohnen nun viele gut verdienende Singles in Appartements, die ihnen womöglich der Arbeitgeber zur Verfügung stellt. Der Umgang mit den vier Wänden ist bei denen viel rücksichtsvoller als der der Bewohner früher. Wer nicht vom Rauchen lassen kann, geht auf seinen Balkon hinaus, der durch Schiebe-Scheiben auch als Wintergarten dienen könnte. Jetzt an den langen Abenden sehe ich also gegenüber permanent aus der Dunkelheit rote Punkte aufglimmen.
Allerdings hat auch bei Tageslicht ein Bewohner meine besondere Aufmerksamkeit erregt. Ein rundlicher, kleiner Herr, vielleicht Endfünfziger mit Halbglatze vollführt sein Kettenrauchen mit mechanischer Präzision. Deshalb habe ich ihn Dampf-Lok getauft.
Ich selbst habe mal nicht zu wenig geraucht, konnte aber auf Kommando sofort damit aufhören. Als die Rauchverbote um sich griffen, musste ich daher nicht leiden. Deshalb konnte ich schon bald all diejenigen nicht mehr verstehen, die sogar bei Eiseskälte und Schneefall die Gemütlichkeit eines Restaurants verließen. - Um sich dann anschließend - umhüllt mit dem ekelhaften Geruch kalten Rauches - wieder an den Tisch zu setzten.
Macht es Sinn, den Wolken nachzuschauen, die man selbst erzeugt? verfälschtes Foto: t-online |
Dampf-Lok würde bei seinem Rhythmus vermutlich lieber auf das Essen verzichten: Sein Bewegungsablauf ist komplett getaktet. Er betritt den Balkon, greift mit der Rechten in die Brusttasche mit den Zigaretten, holt mit der Linken das Feuerzeug aus der Hosentasche und zündet sie an. Dann kauert er sich mit breit gewinkelten Ellenbogen auf die Balustrade vom Balkon und zieht im Abstand der Zeit, die er für den Blick straßauf und straßab braucht, an seinem Glimm-
Stängel. Nach genau sieben tiefen Zügen drückt er ihn aus und verschwindet in seinem Zimmer. Nach noch nicht einmal zehn Minuten ist er wieder draußen. An Wochenenden mit mäßigem Wetter hält er das ohne merkliche Essens-Pause derart gnadenlos durch, dass ich ihm gerne von meinen Infarkten rüber schreien möchte.
Aber das wäre ja wohl das Ende der Privacy...
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