Es brennt mir unter den Fingern, etwas über die ARD-Themenwoche zur sozialen Kompetenz unserer Gesellschaft zu tippen. Es gibt keinerlei Zweifel daran, dass unser Land durch hunderttausende von Gutmenschen in Ehrenämtern und Freiwilligen-Diensten erheblich besser dasteht, aber ist das gleichzeitig ein gesellschaftliches Gütesiegel?
Vom Frühstücks-Tisch im Küchen-Erker und vom Chill-Sessel an der Fensterfront habe ich geradezu einen demoskopischen Überblick. Was machen die Mitmenschen unten auf der belebten Kreuzung im Umgang miteinander, wenn manche von ihnen nicht gerade in Freiwilligkeit, sondern im alltäglichen Stress unterwegs sind?
Die brennende Synagoge in Hannovers Bergstraße am 9. November 1938 Quelle: faz.net |
Die Themenwoche, in der der doppeldeutige 9. November vermutlich nicht zufällig eingebettet wurde, ist ja auch eine Erinnerung an zweierlei Menschsein. Deutsche, die zu diesem Datum in der heute so genannten Reichsprogromnacht 1938 unterwegs auf Judenjagd waren und Zerstörungen an deren Eigentum angerichtet haben, waren bestimmt im Grundmuster nicht anders gestrickt als jene, die die Mauer zwischen den beiden Deutschen Staaten 1989 zu Fall brachten.
Selbst der heute wieder entlehnte, massenhaft missbrauchte Protest-Schrei "wir sind das Volk" zeugt von unserem doppelt zu deutenden Wesen. An dem sollte ja einst sogar die Welt genesen. Gäbe es nicht diesen abgründigen Charakter-Zwiespalt, wie wäre es jetzt zu erklären, dass der Hass auf Juden von Jahr zu Jahr wieder stärker entbrennt? Und was treibt junge Menschen, die die DDR nicht erlebt haben samt noch den vom Stasi überwachten Generationen dazu an, bei den gerade wieder in Ostdeutschland organisierten Demos, sich mehr russischen Einfluss zu wüschen oder gar dazu faschistisches Gedankengut auf ihre Transparente zu pinseln?
Momente echten "Wir-Gefühls": Der Mauerfall am 9.11.89 Quelle: berlin.de |
Mag sein, dass diese von Propaganda-Trollen aus Russland und radikalen Querdenkern unterfütterten Gehirn-Furze nur deshalb fruchten, weil es seit mehr als drei Jahrzehnten immer noch Wiedervereinigungs-Defizite gibt. Aber rechtfertigt das den Angriff auf eine Demokratie, die das angemeldete Demonstrieren in einem Maße erlaubt, das es so in Stasiland eben nicht gab.
Und dann die stets wachsende Ausländer-Feindlichkeit und die Angst vor der wachsenden Migration nicht nur aufgrund des Ukraine-Krieges. So wie es ohne die Freiwilligkeit im Dienst am Miteinander kein soziales Funktionieren gibt, so funktionierte unsere Gesellschaft schon längst nicht mehr ohne, die Migranten, die sich in Fehlstellen unseres Arbeitsmarktes einbringen. Und das führt mich wieder zum Leben an unserer Kreuzung zurück.
Wir wohnen in einem Münchner Traditionsviertel, das nach dem Krieg als sogenanntes "Glasscherben-Viertel" bezeichnet wurde. Heute verdient es zu recht, multikulturell genannt zu werden. Die sich auch hier ausbreitende Gentrifizierung verändert das Straßenbild zur zeit noch nicht sonderlich, aber es bleibt abzuwarten, ob sich gesellschaftlich daraus noch ein weiter wachsendes Wir-Gefühl entwickeln kann, wie das die bunte Mischung unseres gerade veröffentlichten Kaders für die Fußball-WM der Welt signalisiert. Die Gastarbeiter-Generationen 1, 2 und 3konnten sich hier im vergangenen Jahrhundert durch Fleiß und Sparsamkeit noch Grund- und Hausbesitz leisten. Die Immobilienpreise sind aber innerhalb der letzten Jahren derart gestiegen, dass jetzt allenfalls noch Investoren aus dem Ausland die Preise hochtreiben, und diese Objekte nicht selten leer stehen lassen.
Das "Wir" einer solidarisch gesonnenen Gesellschaft kann aber nur dann wirklich funktionieren, wenn die Kluft zwischen Armut und Reichtum nicht noch größer wird. Aber selbst dann wäre noch zu klären, ob die besser Dastehenden überhaupt untereinander ein "Uns"-Verständnis hätten.
Zwei Beispiele:
Wo bleibt denn "unser Wir-Gefühl" im Alltag? Quelle: Verkehrsgemeinde Rüdesheim |
Dass das Parken der zu vielen Autos eine Konflikt-Zone für das "Wir" ist, musste auch meine Frau erfahren, als sie an Allerheiligen mit ihren Schwestern zum Grab der Eltern wollte. Wie immer an diesem katholischen Feiertag der wahrhaft Frommen musste sie eine halbe Stunde nach einem freien Parkplatz suchen. Dann sah sie, dass jemand wegfahren wollte und wartete deutlich sichtbar in einem fürs Manövrieren möglichen Abstand. Kaum war das Auto draußen, fuhr ein anderer Verkehrsteilnehmer von der gegenüber liegenden Seite schnustracks in die Lücke. Als meine ja sichtbar nicht mehr junge Frau ausstieg, um den Mann zur Rede zu stellen, unterbrach er sie auch noch unhöflich: "Glauben Sie bloß nicht, dass ich da jetzt noch rausfahre!"
Wenn das andere "Uns" das "Wir" missbraucht Quelle: MDR |
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