Montag, 22. April 2024

Nachlassen beim Nachlass

 Vor ein paar Wochen ist der Bruder meiner Frau gestorben. er war eher ein Eremit und Einzelgänger, weshalb ich ihm nie besonders nahe stand. Umso mehr belastet sein Ableben meine Frau, die sich mit ihren beiden Schwestern und den Nichten um die Hauhaltsauflösung kümmern muss.
Die Familie meiner Frau ist im Jahre 1960 von Berlin in die Dienstwohnung meines Schwiegervaters nach München gezogen. Seither hat mein Schwager - mit Ausnahme arbeitsbedingter Aufenthalte woanders - sein Leben lang dort gehaust . Er hat weder nach Todesfällen noch seinem Geschmack folgend für sich allein je etwas an dieser Wohnung und ihrer Einrichtung verändert. Was sich da in beinahe 64 Jahren  an Wert und Krempel anhäuft, kann sich einer nur schwer vorstellen.

Ich bin in so einem Fall eher zum Nachlassverweigerer als  zum Nachlassverwalter geeignet. Als mein Elternhaus ausgeräumt werden musste, habe ich das eiskalt meiner Frau und einer meiner Schwestern überlassen. Was ich mir später nie verziehen habe, weil ich sie zum Schutz meiner eigenen Befindlichkeit ungeschützt der Raffgier und Rachsucht des Schwagers überlassen hatte.

Ich hab eindeutig Probleme mit persönlichen Hinterlassenschaften und Orten, die mein Leben zeitweise bestimmt haben.. Ich kann sie nicht betreten oder gar besuchen, ohne in den Kokon einer Zeitreise rückwärts eingewoben zu werden. "Lost Places" stürzen mich in depressive Erinnerungen, die mich dann ewig lang nicht loslassen. Ich habe den Wohnort meiner Eltern nach deren Tod nie wieder besucht. So wie ich auch nie wieder an Wohnungen und Häusern, die uns mal gehört haben, vorbei fahren möchte. Ganz schrecklich wird es bei Dingen, die von der Familie einst gemeinsam geschätzt wurden oder die von ihren Sammelleidenschaften zeugen. Diese  posthum ebenso zu schätzen, ist mir nahezu unmöglich. Ich bin absolut unfähig angesichts eines Nachlasses loszulassen.

Meine Frau und ich am 1.Januar 1976 frisch verheiratet
im verschneiten Garten des Elternhauses.
Viel zu schöne Erinnerungen, um sie von einer anderen Realität trüben zu lassen

Mein Schwager war bis einige Jahre vor seinem Tod ein derart extrem starker Raucher, dass sein komplett auf Nichtraucher umgeschwenkter Arbeitgeber ihm sogar bis zu seiner Pensionierung für sein Büro eine Sondererlaubnis zum Paffen erteilt hatte. Und er trank gerne Pils aus sogenannten "Tulpen". Meine Frau hat seine Sammlung kuriosester Feuerzeuge in unsere Wohnung mitgebracht und in unserem Gläserschrank stehen jetzt ein paar der schönsten Pils-Gläser die die namhaftesten Brauereien jemals herausgegeben haben.

Zum Davonschwimmen!
 Meine an die 30 Lock-Enten waren einmal groß in Mode
und sehr teuer. Nun kräht kein
Hahn mehr nach ihnen

Ich rauche schon seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr, aber an und mit den Pilsgläsern arbeite ich meine Nachlass-Phobien jetzt doch gerne etwas ab. Aber dabei wird mir plötzlich auch klar, dass unsere Kids ja bald vor dem gleichen Dilemma stehen.
Ich ahne schon , was für eine Zumutung meine Hinterlassenschaft für sie sein wird: Was passiert mit meinen über hundert Gemälden und Grafiken? Was geschieht mit meiner fotografischen Hinterlassenschaft, den tausenden Dias von meinen Reportagen aus einer untergegangenen Welt, die noch nicht digitalisiert sind? Oder  - wenigstens überschaubarer - mit meiner Enten-Sammlung und den venezianischen Gläsern, die wir unbedingt haben mussten und die so viel Geld "verschlungen" haben?
"Going digitally" führte zu einem Bruch beim Erinnern.
Was wird aus all meinen Fotos, die ich nicht mehr digitalisieren kann?
Mehr als 10.000 Dia-Unikate von den Reisen meiner Eltern landeten leider  achtlos im Müll



Aber dann leuchtet vor lauter "Besinnungslosigkeit" endlich das helle Licht am Ende meines Tunnels finsterster Ahnungen:

...Ist doch komplett scheißegal! Denn ich bin ja dann sowieso nicht mehr. Sollen die, die bleiben. sich den Kopf darüber zerbrechen.
Mein geschätzter Freund im Alter, der geniale, international ausgezeichnete, erfolgreiche Kameramann wollte seine Memoiren noch verfassen. Jetzt müssen seine Filme, seine Kreativität, bei denen für sich selbst sprechen, die den Vorspann lesen oder beim Abspann nicht gleich umschalten.

Der Kameramann des cineastischen
Meisterwerks "Der Junge Törless":
Franz Rath, im Gegenschuss
beim "Cena in Piazza"


"He was not going digitally", hat er immer wieder gesagt. Das zumindest habe ich ihm voraus. Meine mehr als tausend Posts auf den drei Blogs wären für die elektronische Ewigkeit, wenn sich denn meine Nachkommen um meine digitale Hinterlassenschaften kümmerten. Es sei denn, sie verpuffen beim Einschlag einer von Putins angedrohten, taktischen Atomwaffen. Aber dann war's das wohl auch mit dem, was die Menschheit in ihrer kurzen Geschichte auf Erden der Welt hätte hinterlassen können...

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