Mittwoch, 13. Mai 2020

Gesichtsverlagerung

Auch wenn das Ende immer näher rückt, muss das Alter nicht bedeuten, dass es uns im Moment nur zu potenziellen Opfern macht, wie der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer von den Grünen dies gerne hätte. Tübingen ist eine traditionelle Universitätsstadt mit vielen jungen Leuten, aber mit all seiner Kultur auch ein herrlicher Platz für betagte Bildungsbürger, die vielleicht mehr mit den Jungen in den Dialog treten sollten, wenn sie dies wieder dürfen...

Tatsächlich ist der Wert der persönlich erlebten Überlieferung durch all die sensationell bestückten Internet-Suchmaschinen ins Hintertreffen geraten. Aber gibt es etwas nachhaltig Beeinduckenderes als die Schilderung von Augenzeugen, die die Nazi-Gräuel überlebt haben? Mich erschüttert das jedesmal mehr als noch so gut gemachte Filme über die letzten Tage des Krieges, mit denen uns das Fernsehen gerade überhäuft hat.

Mein Leben wäre mit Sicherheit anders verlaufen, wäre ich nicht wie ein Staffelstab nach der verkorksten Schule von einem Mentor zum anderen gereicht worden. Auf jeder Station war ich einer der Jüngsten, und mir war auch klar, dass sie als Gegenleistung für ihre Förderung meine Schnelligkeit und Kraft mitunter im Übermaß beansprucht haben. Aber die Freundschaften, die zu diesen Menschen, die meist zwei Jahrzehnte älter waren und bis zu deren Tod Bestand hatten, waren inniger als zu Gleichaltrigen. Mein bester Freund starb in einem Alter, das ich nun bald selbst erreicht habe, und er - vor allem seine Weltanschauungen und die Lebenserfahrung der Kriegsgeneration - fehlen mir heute mehr denn je. Da wurde mir dann erst klar, dass ich längst selbst in die Rolle des Älteren, des spiritus rector, geraten war.

Als deren Ausbilder habe ich bei zwei Dutzend jungen Menschen beiderlei Geschlechts ebenfalls versucht, einerseits jeweils den Altersunterschied zu überbrücken und andererseits aber auch Mentor zu sein. Alle haben reüssiert und nehmen heute in einem Alter in dem ich damals war, leitende und prägende Positionen ein. Freundschaften sind aber daraus nicht entstanden. Die Zeit ist immer schneller verflossen...

Erst heute durch diese merkwürdigen Diskussionsansätze während der Pandemie, denke ich überhaupt darüber nach. Eigentlich wollte ich nie etwas anderes als Schreiben. Das wurde mir kürzlich klar, als ich eine Roman-Skizze von mir aus dem Jahr 1967 durch Zufall wieder entdeckte.
Bis zu meinen elektronischen Posts habe ich Manuskripte ja sonst nie aufbewahrt oder gar archiviert.

Die Roman-Skizze handelt von einem Jungen, der einen Kopf mit zwei Gesichtern auf den Schultern trägt, die er vor seiner Umwelt wechselnd mit einer gewaltigen Hippie-Haarmähne verbirgt. Das tut er auch mit seiner Fähigkeit, gleichzeitig in die Zukunft und die Vergangenheit sehen zu können. Die Mitmenschen stehen seinen orakelnden Aussagen  nämlich nur feindlich gegenüber und denken allein im Hier und Jetzt. Die humanistisch mythologisch gebildeten Leserinnen und Leser wird es nicht wundern, dass der Jüngling den Namen Janus trug, und seine Haarschopf am Hinterkopf das Gesicht eines bärtigen Greises verbarg.
Münze Kleinasien vermutlich 400 vor Christus Quelle: ggogle

Ich bin über zwei mit der Hand geschriebene Kapitel dieser Skizze nie hinaus gekommen, aber ich habe später noch Janusköpfe aus Ton modelliert, die man so mit Blumen bepflanzen konnte, dass sie aussahen wie Hippies. Vermutlich war es die Ehrfurcht vor diesem Gott "der Tür", des "Gestern und des Morgen". Seine Symbol-Kraft wird ja wohl unbarmherzig bis über das Atom-Zeitalter hinaus anhalten...

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