Um Mitternacht hat die Zweitbeste ein mit Zuckerguss überzogenes Kuchen-Lamm auf den Esstisch gestellt, einen bunten Strauss aus Kätzchen, Tulpen und Osterglocken dazu, und natürlich durften auch ein paar bunte Eier nicht fehlen. So werden in unserer Familie seit jeher die Oster-Feiertage begonnen. Unsere nicht getauften Kinder, denen wir das mit der Religion eigenverantwortlich überlassen hatten, haben das so unumstößlich übernommen. Christliche Feste werden feierlich begangen, obwohl außer meiner katholischen Frau niemand von uns so recht an die Geschichte glaubt. Außenstehende könnten das als ethischen und emotionalen Automatismus sehen, aber das trifft es nicht.
1972 haben wir als junges Paar Rudolf Augsteins "Jesus Menschensohn" gelesen. Darin hat der legendäre SPIEGEL-Herausgeber akribisch alle Widersprüchlichkeiten im Zusammenhang mit der Initial-Figur des Christentums zusammengetragen. Gut dreißig Jahre später hat er mit einer Überarbeitung und Erweiterung sogar noch einmal nachgelegt:
Augsteins Fazit: "Der Mensch Jesus, wenn es ihn denn gab, hat mit der Kunstfigur des biblischen und kirchlichen Jesus Christus nichts zu tun." Dass sie dennoch als Mythos so erfolgreich war, schrieb Augstein dem "genialen Theologen" Paulus zu.
Augsteins Fazit: "Der Mensch Jesus, wenn es ihn denn gab, hat mit der Kunstfigur des biblischen und kirchlichen Jesus Christus nichts zu tun." Dass sie dennoch als Mythos so erfolgreich war, schrieb Augstein dem "genialen Theologen" Paulus zu.
Wie dem auch sei: Meine Frau hat trotz der Lektüre und mitunter sehr kritischer Distanz zu ihrer "Mutter Kirche" unerschüttert weiter geglaubt, während mir das endgültig nicht mehr möglich war. Aber etwas hat die Zweitbeste durch ihre Unerschütterlichkeit ausgelöst: Ich kann inbrünstig Gläubige mit freudiger Gelassenheit sehen und mich an ihrem Glauben erfreuen. Das geht mir in meiner Wahlheimat Italien so, wo ich kaum eine Prozession auslasse und mich auch auf religiöse Dialoge mit meinen Nachbarn einlasse. Und ich bin gerührt, wenn meine Frau mindestens einmal die Woche in unterschiedlichen Kirchen Kerzen für die Familie entzündet.
Heute Nacht konnte ich mal wieder nicht schlafen und bin schon mal im Kopf durchgegangen, was ich gerade schreibe. Dabei fiel mir auf, dass mich meine Reisen an alle christlichen Kulminationspunkte geführt hatten, ohne dass ich das bislang bilanziert habe:
Ich stand im Advent bei Sonnenaufgang auf dem Moses-Berg und habe im Katharinen-Kloster mit den Popen über die arameischen Schriften geredet, die angeblich ein erweitertes Jesus-Bild, nämlich als Familienvater, bergen. Ich war in Jerusalem nicht nur im Felsendom, sondern bin auch die Via Dolorosa nach Golgata hinauf gegangen. Wie viele Male ich im Petersdom und in der Sixtinischen Kapelle war, bekomme ich gar nicht mehr zusammen. Ich war in Lourdes und in Rocamadour, dem Ausgangspunkt des Jakobsweges. Es war überall immer so, dass mich losgelöst vom rationalen Wissen an jenen Orten ein ehrfürchtiger Schauer überkommen hat, gegen den ich mich gar nicht wehren konnte.
Der Historiker Heinrich August Winkler vertritt in seinen Büchern die These, dass erst der Monotheismus und als Folge das Christentum die "Geschichte des Westens" in Gang gesetzt hat. - Eine ungeheuerliche Entwicklung dafür, dass sie auf Legenden und Mythen beruht!
Da ich kein so unemotionaler Fakten-Sammler wie Augstein oder Winkler bin, habe ich mir eine infinitesimale oder besser stochastische, fast mathematische Erklärung für meine "heiligmäßigen Zustände" zusammen gereimt. Stochastik ist ja das Berechnen von Lösungen auf Basis von Annahmen.
Wenn ich also annehme, dass die Angst des Menschen vor dem Übel und die Sehnsucht nach Erlösung und Vergebung so groß ist, kommt ein Jesus, ein Mensch, der sich für die Menschheit opfert, als Projektion oder in der Gestalt eines Opferlammes gerade recht. Auf dieser Projektion lässt sich dann stochastisch ohne Rücksicht auf Realität ein unendliches Denkmodell aufbauen, das sogar dadurch noch reüssiert, dass Glauben eben nicht wissenschaftlich Wissen heißt.
Dass das Christentum sich trotz aller in seinem Namen begangen Verbrechen so behaupten konnte, liegt eindeutig auch an seinen Segnungen, die aber nun einmal auch von Menschen und Menschlichkeit im besten Sinne abhängig sind.
So gesehen hat der neue Papst einen furiosen Start hingelegt.
Und ja, ich werde mir am Oster-Sonntag wieder einmal im Fernsehen den Urbi et Orbi geben und danach eine dicke Scheibe vom Lamm abschneiden...
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