Was herrschte kurz nach der Mitte des letzten Jahrhunderts für eine merkwürdige geographischen Dimension - im Kinder-Verstand? West-Ost war nicht zu verbinden, weil ein imaginärer Eiserner Vorhang und bald darauf eine veritable Mauer mit Todesstreifen-Verlängerung das verhinderte. Und dann gab es da ja auch noch ein wirtschaftliches Nord-Süd-Gefälle. - Nicht nur in Deutschland, sondern auch global betrachtet.
Als mein Vater als Bundesbeamter versetzt wurde, war ich neun. Wir zogen von Hamburg aus dem hohen Norden in den tiefen Süden Deutschlands nach München. Ich hatte nicht kapiert, dass das Oben und Unten irgendwie mit der Draufsicht auf die Landkarte zu tun hatte. Da ist Norden eben oben und Süden demzufolge unten. Es dauerte Jahre, bis ich nicht mehr sagte, wir seien hinauf nach Bayern gezogen, weil die Bayrische Landeshauptstadt ja mehr als 500 Meter höher lag.
Dass der Freistaat Bayern anders als Deutschland war, bekam ich gleich nach den ersten paar Tagen in der Volksschule zu spüren. Das "Fräulein" - so wurden die Lehrerinnen gleich welchen Familienstandes genannt - verdonnerte mich zum Nachsitzen mit Mitteilung an die Eltern: Wegen zu schnellem Sprechen und Besserwisserei (ich hatte kindlich naiv im Angesicht des lieben Jesulein am Kreuz über der Tafel angedeutet, dass ich nicht an Gott glaubte). Obendrein wäre ich in Hamburg an Ostern mit der vierten Klasse fertig gewesen. So musste ich die auch noch bis Ende Juli wegen des anders verlaufenden Schuljahres im Norden zusätzlich ableisten. Es wurde zur Strafe auch noch interkonfessionell gebetet, es gab Fleißbildchen für gute Leistungen (ich bekam nie eines), und die Buben durften nur in der großen Pause in Reihe zum Pinkeln antreten, während die Mädchen jederzeit raus durften. Das Katholische dominierte da generell noch das Protestantische.
Es klingt sicher blöde, wenn ich behaupte, dass ich das Nord-Süd-Gefälle vor allem kirchlich kulturell so wahr genommen hatte.
Fünf Jahre später - wegen fortwährender Anpassungsschwierigkeiten - auf einem privaten Gymnasium gelandet, wo alle Lehrer - gleichgültig welchen Ausbildungsgrades - mit Herr Professor anzusprechen waren, begann sich das Gefälle (wirtschaftlich) urplötzlich nach Norden zu orientieren. Auslöser hierfür war ein untersetzter Mann, der herrlich aus dem Stegreif lateinisch zitieren konnte und schnell mal als Verteidigungsminister eine ganze Chefredaktion als Geheimnisverräter einbuchten ließ, nur weil die ihn zuvor mit einer Grundstückspekulanten-Affäre in Verbindung gebracht hatte. Diese bullige, ministerpräsidiale Verkörperung der Liberalitas Bavariae. die wohl auch der Familien-Kasse nicht geschadet haben dürfte, gelang diese politische und wirtschaftliche Verkörperung Bayrischer Lebensart derartig nachhaltig, dass ihm folgende Ministerpräsidenten um Mehrheiten nicht ernsthaft besorgt sein mussten. - Bis sich einer fataler Weise auf eine Koalition mit einer Partei einlassen musste, die das Liberale sogar im Namen trägt, vom freiheitlichen Denken jedoch so weit entfernt ist, wie weiland jener Jets selber fliegende Jägermeister von der Basis-Demokratie, nachdem jetzt das Verkehrskreuz des Südens benannt ist: Franz Josef Strauß.
Vor allem aber waren das Klima und die Schönheit der Landschaft für die Magnaten aus dem Norden so lebenswert, dass es bald zu kapitalen und Standort bedingten Verlagerungen nach Süden kam
Das hat den Freistaat eben zum bestimmen wollenden "Musterländle" gemacht (Baden Württemberg unter grüner Herrschaft wird ja kein aufrechter Rechter mehr so nennen wollen), das ganz oben steht. Und zwar im Süden mit Gefälle nach Norden - was weltpolitisch so gut wie einzigartig ist.
Und darauf will ich heute eigentlich hinaus:
Trotz des Vermengen von Glauben und Ideologie mit Real-Politik klappt das hier in Bayern. Überall sonst ist der Süden nämlich auch immer wieder wegen Glaubensfragen nicht aus seinem bedrohlichen Tal gekommen:
Zwar sind in Italien die Kräfte um die Lega Nord und Konsorten ein wenig erlahmt, seit sie sich auf Berlusconi gestützt hatten, aber es könnte in ein paar Wochen schon anders sein, wenn separatistisches Gedankengut wieder den Mezzogiorno, den von Maffia und Camorra gebeutelten Süden Italiens, als Verursacher in den Wahlkampf zerrt.
Der Süden Spaniens wird von separatistisch denkenden, reichen Katalonen und Basken als Bremse für ihr Wohlergehen gesehen. Im Cameron-hörigen Norden Irlands wird wieder die Angst vor den Europa-Republikanern im Süden geschürt. Nicht, ohne dabei Protestantismus gegen Katholizismus in Stellung zu bringen.
Der gesamte Süden Europas sieht aktuell zudem in den Deutschen wieder die, die oben sind und von Norden nach unten in den Süden hineinregieren wollen. Ein Aberglauben, der schnell zur Konfession geraten könnte...
Und so ähnlich hatten wir das schon mal vom Beginn des letzten Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges:
Imperialismus von oben im Norden hinunter ausgeübt in den Süden - das galt und gilt noch für Amerika unter der Hegemonie der Vereinigten Staaten und genauso für die Kolonial-Politik europäischer Monarchien und heutiger Oligarchien. - Die Wahrung der Pfründe beschäftigte den Westen damals derart, dass er den Osten aus dem Blickfeld verlor und politische Veränderungen nicht länger überblickte und in der Folge völlig falsch einschätzte:
Das bedrohliche Störpotenzial für den Frieden verbirgt sich heute in Chinas Folgerungen aus dem Turbo-Kapitalismus und der Finanzkrise, dem (möglichen atomaren) Nord-Süd-Konflikt Koreas, der zweiten islamistischen Front, die sich ungehindert in den südlichen malaiischen und philippinischen Archipelen bis hinein in den Indischen Ozean mit einem atomar gerüsteten Pakistan bildet. Die Ballung von Problemen an den südlichen und östlichen Gestaden des Mittelmeers verdüstert dieses Szenario ja auch noch.
Bald 70 Jahre "Weltfrieden" haben den "Westen" vielleicht nur abgelenkt. Hoffentlich hat ihn die im Vergleich zu größeren noch zu lösenden Problemen wie eine Schnitzeljagd anmutende Jagd auf Al Qaida nicht ernstlich verwirrt.
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