Montag, 14. Januar 2013

Ein stiller Star

Am Morgen, nach dem wir das Glashaus wieder besetzt hatten, wies mir die Zweitbeste die Aufgabe zu, die weit über hundert Jahre alte bretonische Pendule wieder in Gang zu setzen, die über unserem Esstisch hängt. Schon früher hing sie in den meisten unserer Behausungen an diesem Platz, war aber ein rechtes Ärgernis, weil sie regelrecht "ausgependelt" werden musste. 

Mit zerschnittenen Korken, Streichhölzern und Filzplättchen konnte ich justieren soviel ich wollte. Nach ein paar Stunden blieb sie stehen und verlangte die erneute Prozedur. Deshalb war ich nicht traurig, als sie beim großen Umzug nach Italien vierfach verpackt in Noppen-Plastikfolie in der Cantina blieb. Zumal sich schon eine große Standuhr der Gründerzeit auf der Burg als nicht mehr kurierbarer Patient einstellte. Dabei fehlte auch der nichts als ein kleiner Bimetall-Streifen, der die Amplitude des Pendels reguliert. Wir waren wirklich der Meinung, dass es in Italien eher Uhrmacher gäbe, die so eine Kleinigkeit reparieren könnten. Aber das war ein Irrtum. - Auch das Uhrmacher-Handwerk dort erlag  der digitalen Revolution.

Zehn Jahre also lag die Pendule im Regal der Cantina, dann kamen Rafael und Bri auf die Burg, um sich ein paar Tage von anstrengenden Berg-Touren im Piemont zu erholen. Mit dem Paar sind wir seit Teenager-Tagen nicht nur befreundet - mit Rafael waren wir sogar mal verschwägert. Der Schwager, Rafaels Bruder, hatte uns alle mit seinem bretonischen Pendule-Fimmel angesteckt, und alsbald hatte jeder von uns so ein Teil an der Wand hängen...

Daran erinnerte sich der Rafael, als wir vor der Bullen-Hitze in den Schlagschatten der Piazza flüchten mussten und seine Hände nichts anderes zu tun gehabt hätten, als ein Glas eiskalten Weißweines zu halten. Aber Rafaels Hände brauchen eigentlich immer etwas zu tun, und so fragte er die Zweitbeste, ob er sich nicht mal unsere Pendule anschauen sollte. Niemals hätte ich es fertig gebracht, ein derart jähes Leuchten in den Augen meiner Frau zu entfachen. Dazu muss aber auch ich gestehen, dass obwohl Reiche, Superreiche und erfolgsverwöhnte Stars mir in meinem Berufsleben abgewöhnt haben, für Menschen empathische Bewunderungen zu empfinden, der Rafael einer ist, der die krasse Ausnahme verkörpert.

Als manueller Tausendsassa hat er uns nicht nur Möbel gebaut, als wir uns Maßschreinerei noch nicht leisten konnten, er malt auch bis heute entzückende Bilder und kümmert sich, wann immer er gebraucht wird. Als Meister eines persönlichen Time-Managements gerät er dabei niemals in Stress - trotz seiner außergewöhnlichen, beruflichen Belastung... Sollte jemand in seinem Umfeld mal Zweifel an der Lösung eines Problems haben, dann erzeugt das bei ihm ein unnachahmlich wissendes Lächeln, das einen sofort verstummen lässt.

Voller erneuter Bewunderung sahen wir also dabei zu, wie er mit Geduld und ohne die Konversation mit uns zu vernachlässigen, die Pendule komplett zerlegte und auf Basis einer umfangreichen Diagnose deren Heilung versprach. Allerdings müsse er das zu Hause machen, da er da eben das entsprechende Ersatzteil-Lager habe.

Beim nächsten München-Aufenthalt brachten wir die grob wieder zusammengesetzte Uhr vorbei, und ein halbes Jahr später bekamen wir die Pendule in einem Zustand zurück, als habe sie der bretonische Uhrmacher-Meister, der sie einst schuf,  gerade erst ausgeliefert.

Alle Intarsien, Furniere und Perlmutt-Applikationen waren wieder hergestellt und nach kleinen Justierungen an ihrem endgültigen Platz gongt und tickt sie wie in ihren besten Tagen. Dazu lieferte Rafael eine umfangreiche Bild-Dokumentation über die einzelnen Arbeitsschritte seiner Restaurierungsarbeiten. Gerade so wie der Professor für Chirurgie seine Vorlesungen begleitet...Er ist eben nicht nur Uhrmacher-Meister, sondern gehört zu den wenigen Experten auf der Welt, die Siamesischen Zwillingen zu einem getrennten Leben verhelfen können.

Übrigens, während ich dies hier als kleines Dankeschön schreibe - er will ja nie etwas für seine Gefälligkeiten - tickt diese alte Uhr nach meinem Wiederaufziehen immer noch: Sieben Tage, fünf Stunden und 27 Minuten. Das dürfte so ganz nebenbei neuer Pendule-Weltrekord sein.

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