Sonntag, 19. April 2020

Leben im Takt

Der heutige Montag soll ja zeigen, ob es schrittweise zurück zur Normalität geht, oder ob uns Covid-19 auf lange Zeit nicht mehr aus seiner Bedrohung entlässt. Der Verkehr auf der Kreuzung unter uns ist bereits fast so stark wie einst, und es sind wieder weniger Jogger unterwegs. Ein Zeichen, dass vielleicht doch einige mehr an ihren Arbeitsplatz zurück dürfen...

Aber was wird aus denen, die weiterhin in ihrem Hausarrest verharren müssen? Es ist denkbar, dass die Alten, die"Generation Opfer", tatsächlich am ehesten damit zurecht kommen. Es sei denn, sie sind krank vor Sorge um ihre Kinder und Kindeskinder. Wenn ich so mit Freunden und Bekannten herum telefoniere, wird deutlich, dass die im wirtschaftlich abgesicherten Ruhestand kaum unter den Maßnahmen leiden; vielleicht am ehesten weil die Biergärten und Restaurants geschlossen bleiben und ihre Konzert- und Theater-Abonnements ausgesetzt sind.

Der ohne eigenen Schuld in die wirtschaftliche Klemme geratene Anteil unserer viral entstandenen Zweiklassen-Gesellschaft wird aber, wenn die Politik ihn weiter aus dem Takt des normalen Lebens zwingt, zu einem Brandbeschleuniger ungeahnten Ausmaßes. Siehe die Trumpisten in den USA, die gerade einen zynischen Moral-Code vorgeben

Mir ist durch das planlose herum Zappen zwischen fürsorglich gemeinten TV-Magazinen zur Corona-Krise ein Beitrag aufgefallen, der mir im Hinblick auf den Rhythmus des Lebens ganz anders  zu Denken gegeben hat:

Einem Reporter war es gelungen, ein Interview mit einem Mann zu führen, der soeben nach Verbüßung einer langen Haftstrafe in die eingeschränkte Freiheit der aktuellen Virus-Wirklichkeit entlassen wurde. Der war ja quasi in einer Situation, als hätte man ihm nur Freigang oder den Vorzug gewährt, öfter vor die Tür zu dürfen. Er meinte, er sei vor allem deshalb hilflos, weil er nicht mehr "getaktet" sei. Ein komischer Ausdruck, den ich erst durch seine weitere Erklärung verstand:
Die Forderung nach freier Takt-Wahl,
um nicht für lange Zeit aus
dem Takt zu geraten, bleibt
leider weiterhin unerfüllt...
Quelle: amazon
"Im Gefängnis läuft der Tag nach einem immer gleichen Takt ab. Da wird einem Aufstehen, Essen, Duschen, sogar die freie Zeit und das Schlafen im immer gleichen Rhythmus vorgegeben. In der Wohnung hier finde ich mich noch nicht zurecht. Freunde und Verwandte, die mich sowieso nicht besuchen dürften, habe ich nicht. Der Arbeitsplatz, den man mir vermittelt hat, bleibt auf ungewisse Zeit nicht verfügbar. Ich lebe gewissermaßen in einer Haftverlängerung."

Ein Leben im Takt muss also wohl nichts mit einem intakten Leben zu tun haben. Aber es ist durchaus denkbar, dass die Politik genau so wenig über diese "Taktlosigkeit" und ihre gesellschaftlichen Langzeit-Folgen erahnt, wie sie vom erfolgreichen Kampf gegen Corona wirklich weiß.


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