Es kann vorkommen, dass jemand einen mehr als ein halbes Leben begleitet und dann doch nicht zu enträtseln ist:
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Fourty Years Ago |
In den ersten Minuten hatte er die Nabelschnur dreimal um den Hals gewickelt und hatte derart große, abstehende Ohren, dass man befürchten musste, er flöge gleich davon wie Walt Disneys fliegender Elefant Dumbo.
Dieses keine Luft Kriegen um dann nach beängstigend langen Momenten doch noch genügend Atem in den Lungen zu haben, um markerschütternde Schreie auszustoßen, behielt er bei, bis er erstaunlich schnell auf zwei Beinen die Freiheit suchte. Nur wenig später raste er todesmutig auf Ski den steilsten Buckelhang unseres Hausberges herunter. War da ein kommender Skistar unterwegs, der eine professionelle Ausrüstung brauchte? Offenbar nicht, weil er zu Beginn der zweiten Saison mitten am Hang Ski und Stiefel auszog und bei Eiseskälte meinte, man könne sich die Sch...ski da oben abholen...
Macht nichts. Dann würde er wohl Wissenschaftler werden, denn sobald er lesen konnte, speicherte er Geo-Daten und jegliches andere Wissensgut im Gedächtnis ab. Dennoch war er dann ein schwieriger Schüler, der durch Sturheit und Ungehorsam seine Lehrerinnen herausforderte und im letzten Grundschuljahr von seiner Klassenlehrerin trotz bester abgelieferter Arbeiten überall eine Note schlechter bekam. Eine pädagogische Ungerechtigkeit, die seine Eltern viel Geld kosten sollte, weil der Direx Schwierigkeiten an dem staatlichen Gymnasium der Gemeinde prophezeite. Das hatte nämlich einen recht elitären Ruf.
Der Junge wurde einerseits Einzelgänger, andererseits war er Anlaufstelle für einen enormen Freundeskreis. Es konnte aber passieren, dass er mitten im Geburtstagtrubel verschwand, um in seinem Zimmer für sich allein zu spielen. Seine Zukunft als Nerd war in dem Moment fest geschrieben, in dem er einen abgelegten PC aus der Firma seines Vaters bekam. Den beherrschte er nicht nur bald viel besser als sein gramgebeugter Erzeuger, sondern jonglierte mit den Anweisungen der Programme, die in jener Zeit noch überwiegenden in Englisch auf dem Bildschirm erschienen, dass er die Sprache so ganz nebenbei erlernte. Alles bestens! Learning by doing also?
Wie konnte es nur passieren, dass ihn da dann eine teure Privatschule wegen Leistungsverweigerung ausmusterte? Unbeugsamkeit und Renitenz sorgten auch für Hilflosigkeit und Unverständnis bei denen, die ihn liebten. Nicht nur Lehrer, die wegen seiner vielen Begabungen unverhohlen Sympathie für ihn bekundeten, sondern auch Eltern und Verwandte wurden nicht schlau aus ihm. Die drei zauberhaftesten Mädchen, die man sich als Jungmann nur vorstellen kann, ließ er aus - für andere - unverständlichen Gründen ziehen. Nur ein Verhältnis war an Innigkeit nicht zu übertreffen. Das zu seiner älteren Schwester, die von klein auf seine Schutzpatronin ist.
Und dann passierten einige Wunder hintereinander. Er, der gerne etwas mit Elan anfing, um es dann sausen zu lassen, machte in Eigeninitiative das Abitur ausgerechnet an jenem Gymnasium, das sein Volksschul-Direx für zu schwer eingestuft hatte. Mit niemandem redete die Direktorin bei der feierlichen Zeugnis-Übergabe so lange wie mit dem, den sie in der Abi-Zeitung das "Phantom" nannten, weil er im Unterricht nur selten gesichtet wurde. Auch die journalistische Ausbildung mit den dazu gehörigen Seminaren absolvierte er, obwohl das Thema Sport nicht seines war. Seine textliche Begabung reichte ihm aber selbst nicht, um weiter zu machen. Er hielt sie für nicht gut genug, und wollte sie durch ein Studium mit Schwerpunkt auf amerikanische Literatur unterfüttern. Ausgerechnet er, der Schule ja ätzend gefunden hat.
Lernwillig war er eigentlich nur in seiner Liebe zur Musik. Neben dem ganze Auf und Ab seines Lebens bis dahin hatte er sich ohne speziellen Unterricht eine Reihe von Instrumenten selbst beigebracht. Allerdings den Unterricht bei einer renommierten Gesangslehrerin besuchte er verlässlich. Als er sich auf einer Probebühne mit Porgy&Bess zum Abschluss vor Publikum "frei" sang, hatten nicht nur Eltern Tränen in den Augen. Auch seine Lehrerin meinte gerührt: "Ihr Sohn ist einer Rampensau!"
Lampenfieber kennt er nun auch in dem Quartett nicht, mit dem er durch die Münchner Szene tourt, so die Pandemie es zulässt. Er hat sich zu einem beachteten Singer/Songwriter entwickelt, obwohl er sich immer noch - genau wie einst beim Schreiben - für nicht gut genug empfindet. Man könnte ihn für vulnerabel halten, aber er ist eben gar nicht narzisstisch,
Vermutlich ist er einer der wenigen Menschen, die es über vier Jahrzehnte unbeugsam schaffen, sein eigener Mensch zu sein.
https://www.youtube.com/watch?v=FiLb34khVaI
Bis zum heutigen Tag, an dem mein Sohn 40 Jahre als geworden ist, werde ich nicht schlau aus ihm. Aber das macht nichts, weil ich ihn so sehr viel mehr liebe, als er das vielleicht wahrhaben möchte.
Herzlichen Glückwunsch Boba!
https://wearehouseofleaves.com/