Montag, 7. Dezember 2015

Automatismen von Liebe und Mitleid

Vor einigen Tagen entkam im Osten Deutschlands ein Rindvieh auf dem Weg zum Schlachthof und ließ sich nicht wieder einfangen. Das fand ich irgendwie verständlich, obwohl ich leidenschaftlicher Fleisch-Esser bin.

Weniger verständlich fand ich allerdings, dass der Polizei nichts besseres einfiel, als der "finale Rettungsschuss". So ging es wohl auch anwohnenden Bürgern. In den Nachrichten war zu sehen, wie sie auf der Stelle, an der die Kuh nieder gestreckt wurde, Kerzen und Blumen als Zeichen ihrer Anteilnahme hinterlassen hatten. Das Mitleid hat das Rindvieh quasi in den Stand  der "heiligen Kuh" erhoben und in der Art des Gedenkens  auf eine Stufe mit den Opfern der Pariser Terror-Opfer gestellt.

Das fand ich irgendwie paradox, Ein zum Tode verurteiltes Schlachtvieh starb des gewaltsamen Todes, der ihm von Anfang an zugedacht war. Wieso liegen dann nicht vor allen Schlachthöfen dieser Republik Halden von Blumen oder brennen Tausende Kerzen? Und was sind das für Menschen, die im anonymen Gemenge jedesmal hingehen, um ihre Trauer auszudrücken - für Menschen, die sie nicht gekannt haben und die sie im Leben vielleicht gar nicht gemocht hätten?
Ob Lady Di oder die Opfer von Paris - interessant ist die unterschiedliche Bewertung oder Wertigkeit der Opfer:

Unmittelbar vor den Anschlägen in Paris kamen bei einem Bomben-Attentat im Libanon ebenfalls über 100 Menschen um, ohne dass gleich zum heiligen Krieg aufgerufen  wurde oder sich die Weltgemeinde zur gemeinsamen Trauer vereinte. Auf einer Insel im Tschad wurden wenig später Frauen und Kinder auf einem Markt vom Boko Haram in die Luft gejagt.

Die Welt würde eigentlich aus den Trauerzügen nicht mehr heraus kommen, deshalb muss vielleicht selektiert und bei Nationen getrauert werden, die in der Lage sind, spektakuläre, kriegerische Maßnahmen einzuleiten..

Als Pazifist und Nutznießer unserer großartigen Verfassung bin ich in diesen Tagen im permanenten Gewissens-Konflikt, der noch dadurch verstärkt wird, dass ich deswegen an meiner Fähigkeit zu lieben und mit zu leiden zweifle.

Am 19. Dezember soll eine Lichter-Kette als friedliche Demonstration von München nach Berlin führen. Das ist ein großartiges, solidarisches Vorhaben, Aber welche Nachhaltigkeit hätte diese Aktion ?

Giovanni di Lorenzo - heute eloquenter Chefredakteur der ZEIT - war vor 23 Jahren Mitinitiator der ersten Lichter-Kette gegen Fremden-Hass. Hat sie die Nation seit Hoyerswerder nachhaltig erleuchtet?

Die schwarze Seite des Deutschseins zeigt heute als Partei-Bewegung noch viel wirkungsvoller ihre Fratze. Aber damals hätte ich mich noch hoffnungsfroh eingereiht, wenn ich im Lande gewesen wäre. Ich empfing die Botschaft weit weg als TV-Video-Schnipsel noch dazu mit falscher Interpretation.

Dennoch löste das bei mir grundsätzliche  Überlegungen aus, ob unser Verhalten in Liebe und Mitleid nicht Ergebnis einer Manipulation durch PR ist. Die Bilder und Nachrichten lösen einen Reflex aus, der uns motiviert, ein Teil des Ganzen sein zu  wollen. Das Schlimme ist, je nach Reizschwelle treibt es uns in die Lichterkette oder in die Massen der PEGIDA.

Und ist es nicht bei der Liebe genauso? Die Daily Soaps vermitteln uns ein überzogenes romantisches Bild, an der wir die Realität des Ehe-Alltags messen, und die Porno-Industrie suggeriert, dass wir "hopelessly undersexed" sind. Unzufriedenheit führt zum Wunsch nach Veränderung. Der Wunsch nach Veränderung lässt - wenn er in Gewalt ausufert - aber irgendwann keine Rückschlüsse mehr zu, ob er auf einen Mangel an Sex zurückzuführen ist...

In keinem Land der Welt wird das "I love you!" so inflationär missbraucht wie in der Porno-Weltmacht USA. Ist es da dann ein Wunder, dass der tödliche Schusswaffen-Gebrauch fast gleichrangig ist?

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