Freitag, 21. Mai 2021

Wahrnehmungen

Wie konnte ich nur wagen, über Antisemitismus zu schreiben? In einer Zeit, in der das Wort Rasse aus unserem Grundgesetz durch einen  anderen Begriff ersetzt werden soll, wird nun auch noch die Gedanken-Polizei losgeschickt. Weil neue Maßstäbe nun auch die Wahrnehmung als Quelle des Rassismus sehen.

Das Fremde ist nie fremd,
sofern es nicht als fremd vermittelt wird:
Meine Schwester und ich auf "Tuchfühlung"
 bei einem orientalischen Tanzfest nur für Männer

Meine Eltern haben uns auf den vielen gemeinsamen Reisen keine unsichtbaren Grenzen vermittelt, wenn wir in Länder fuhren, in denen die Menschen gänzlich anders aussahen. Das war wohl eine Unterlassungssünde, denn wenn ich heute die Menschen unten an der Kreuzung sehe, ordne ich sie nach meiner Wahrnehmung automatisch zu. Wir sind ein Multikulti-Stadtteil mit einer Weltfirma, die im Appartement-Haus gegenüber auch wechselnde Mitarbeiter aus dem Ausland unterbringt.

Ein Langzeit-Resident wohnt direkt zwischen zwei dunkelhäutigen Männern auf gleicher Höhe mit unserer Wohnung. Er könnte ein pyknischer Deutscher sein. Aber ich nehme ihn, wenn er zu  Hause ist, als disziplinierten Kettenraucher wahr, der für jede Zigarette, die er sich ansteckt auf seinen Veranda-Balkon geht. Beim Fernsehen zähle ich manchmal mit. Er raucht bis zu sieben Glimmstängel pro Stunde. Und weil er beim hastigen Rauchen rhythmisch Wölkchen ausstößt, nenne ich ihn Dampflock. Das ist nach den neuen Maßstäben also eindeutig eine diskriminierende Wahrnehmung, die ich mir ein für alle Mal verbieten müsste.

Wenn ich ein Päckchen bekomme, bringt mir das ein freundlicher Herr, der aus dem Senegal stammt, an die Wohnungstür. Ich weiß, weil ich ihn gefragt habe, woher er stammt. Das war demnach laut Ansicht der neuen Moral auch ein absolutes "No go".

Weiter unten in der Querstraße wohnt eine offenbar sehr strenge muslimische Familie. Die Mutter von vier kleinen Kindern geht komplett verschleiert zum Einkaufen in den tunesischen Supermarkt hundert Meter weiter. Als man noch nicht Abstand halten musste, standen wir einmal beim Lamm nebeneinander. Sie gab ihre Bestellung mit einem gaumigen Deutsch auf. Was mir wiederum zeigte, dass sie wohl nicht aus dem arabischen Raum stamme. Ich fragte sie deshalb, ob die Wurstkette, die sie da kaufte, Lamm oder Rind enthielt. Das war aus zweierlei Gründen ein Verstoß gegen die Ethik. Erstens, weil man ja verschleierte Frauen auf keinen Fall ansprechen darf, und zweitens, weil ich sie ja als Muslima wahrgenommen habe...

Auch mein uniformierter Begleitschutz
ließ sich 1986
in Shanghai  mit meiner
Kamera stolz als Quasi-Kollege fotografieren:
Man braucht nur höflich zu fragen...

Aus Automatismen, die sich während meiner Zeit als Reporter eingeschlichen haben, ordne ich beobachtete Menschen eben zu, aber ich diskriminiere sie damit ja nicht oder lehne sie aus niederen Instinkten ab. Vielmehr sondiere ich, ob ich mich ihnen mit gebotenem Anstand nähern darf. Was auch zu Grenzfällen führen kann.

Auf der Sinai-Halbinsel war ich Übernachtungs-Gast in der Gäste-Hütte einer Beduinen-Familie, die selbst in  ihren typischen Zelten schlief. Deren Sohn sollte mich am nächsten Morgen auf einen Fels mit einer vergessenen Tempel-Anlage führen. Seine Teenie-Schwester, die die ganze Zeit unseres Aufenthalts verschleiert war, wollte unbedingt mitkommen.
Weil ich wegen der Fotografiererei zurück hing, blieb das Mädchen bei mir. Dann passierte etwas, das mir in Zeiten von Lawrence von Arabien mächtig Ärger eingebracht hätte. Das Mädchen nahm den Schleier vor ihrem Gesicht zurück und bedeutete mir, ich solle sie fotografieren.
Dieser Moment war so magisch, dass ich ihn nach der Heimkehr malen musste. Seither hängt das Beduinen-Mädchen, das nun vermutlich in ihren Vierzigern ist und Mutter sein müsste, in ihrer ganzen ewigen Schönheit bei mir im Wohnzimmer. War ich da etwa übergriffig?...

"Das schöne Beduinen-Mädchen" und das "Ende einer Karawane":
Claus Deutelmoser1989 (Öl auf Leinwand)

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