Muss mir das jetzt peinlich sein, mich als Traueranzeigen-Junkie zu outen? Seit ich die 60 überschritten habe, schaue ich täglich nach, wer wo beerdigt wird und wie alt der dann geworden ist. Dann rechne ich nach - im seltensten Falle - um wie viele Jahre ich die Verstorbenen überlebt habe. Meist aber zähle ich die Jahre, wie lang es noch hin ist, bis ich das Alter der Angezeigten erreiche. Da überkommt mich dann oft Pessimismus. Wahnsinn, um wie viel älter die Menschen werden, seit ich diese morbide Angewohnheit habe...
Aber als einer, der Gefühle gerne in Texten ausdrückt, sind die Freitags- und Wochenendausgaben mein Highlight. Man spürt förmlich, wie die Hinterbliebenen gerungen haben, um in ein paar Zeilen Text den Verstorbenen mit der eigenen Trauer in den Anzeigen gerecht zu werden. Man weiß ja nie, ob der Dahingeblichene von unten oder oben doch noch einen Blick darauf werfen kann...
Jedenfalls werde ich meinen Leuten das ersparen. Mein Körper wird gespendet, und Anzeigen darf es auch keine geben. Wer unbedingt einen Nachruf verfassen will, soll gewarnt sein, die unsinnige Floskel "vom erfüllten Leben" zu verwenden. Das wäre wirklich der einzige Grund die Metaphysis zu verwenden, um posthum Blitze zu schleudern.
Haben James Dean oder Jimmy Hendrix, die ganzen früh dahin gegangenen Stars aus dem Twentyseven-Club ein erfülltes Leben gehabt, nur weil ihr Ruhm bis heute anhält? Heute wissen die Nachlassverwalter von Pablo Picasso, dass er in den letzten Lebensjahren wie besessen noch mehr als 2000 Kunstwerke geschaffen hat. Drei pro Tag - darunter auch Skulpturen und komplizierte Lithographien. Wie erfüllt wäre sein Leben noch gewesen, wenn er die 90 erlebt hätte?
Wer legt überhaupt die Parameter für ein erfülltes Leben fest, wenn man die Verstorbenen vielleicht noch nicht einmal nach ihrer eigenen Einschätzung gefragt hat, weil man sie allein gelassen in einem Altenheim sterben ließ? In den 70er Jahren habe ich für eine Illustrierte mal eine makabere Geschichte recherchieren müssen, weil sich ein Airline-Frachtmanager über die vielen nicht abgeholten Särge der beim Überwintern auf Mallorca verstorbenen Rentner beschwert hatte.
Ist ein Leben erfüllt gewesen, weil man es nach den Normen und Erwartungen der Gesellschaft gelebt hat?
Oder weil man die biologische Aufgabe der Hinterlassung von Nachkommenschaft erfüllt hat?
Haben Kinderlose demnach kein erfülltes Leben gehabt?
Haben Politiker auch dann ein erfülltes Leben gehabt, wenn sie ihren Machthunger nicht stillen konnten?
Für mich ist die Frage nach einem erfüllten Leben eine ganz persönliche Angelegenheit, die jeder bei der Rückbetrachtung mit sich selbst auszumachen hat. Deshalb sollten andere sich diese Wertung wirklich ersparen!
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