"Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus..." Die von Wilhelm Müller gedichtete und von Schubert in schweren Zeiten des 19. Jahrhunderts im Rahmen der "Winterreise" vertonte Anfangszeile von "Gute Nacht" habe ich fälschlicher Weise für blanke Melancholie gehalten. Vor etwa anderthalb Jahrzehnten war ich eine Wette eingegangen. Ein Bariton als Stargast war bei einer Gala derart indisponiert, dass ich vor Zeugen meinte:"Das kann ich ja sogar besser!"
Mit geduldiger Begleitung eines Schul-Kameraden meines Sohnes, der heute bezeichnender Weise Musik-Lehrer ist, und der CD von Hermann Prey nahm ich mir also einige Lieder aus dem Zyklus vor und übte sie drei Monate bis zur Weihnachtsfeier meiner Firma. Das Ergebnis war wohl so schlecht nicht, weil ich die Damen im überschaubaren Auditorium mit feuchten Augen derart zum Schmachten brachte, dass ich mich fragte, warum ich nicht schon früher versucht hatte, mir die Damen-Welt singend "gewogen" zu machen.
Tatsächlich hatte ich mich so auf Korrektheit konzentriert, dass ich eigentlich nicht weiter über den Sinn der Worte nachgedacht hatte. Als die "Winterreise" entstand, war Deutschland ein kleinstaatliches Konglomerat, und Europa so weit von einer Einheit entfernt, wie es der Geheimrat Goethe in Auerbachs Keller dem "Faust" verlauten ließ: "Ein echter deutscher Mann kann keinen Franzen leiden, doch seine Weine schätzt er sehr!"
Gerade bin ich quasi grenzenlos mit schmerzendem Herzen in diesem Welt-Horror-Jahr 2014 von Italien nach Deutschland gekurvt: Fremd ausgezogen, um dann fremd wieder einzuziehen. Gute Nacht Europa! Was ist eigentlich los mit Dir? Da passieren gerade Dinge, die mein altes Hirn nicht mehr auf die Reihe kriegt.
Durch den von meinen Ärzten empfohlenen, neuen Rhythmus in der Ernährung muss ich zu einer Zeit aufstehen, die ich mein Leben lang überschlafen habe. Im italienischen Frühling und Sommer war das kein Problem, aber im Dunkel des deutschen Herbstes hocke ich jetzt im unbeleuchteten Glas-Erker unserer Küche und schaue Müsli kauend auf ein Bahnstreik bedingtes Verkehrschaos. Hektische Fußgänger und Radler schlängeln sich da gefährlich hindurch. Denn an vier Ecken wird gebaut, was das Fort- und Durchkommen noch erschwert. Ausgerechnet hier inmitten all des Lärmes entstehen unzählige Eigentumswohnungen. Das Studenten-Wohnheim gegenüber - mit den zeigefreudigen jungen Damen aus aller Welt musste den allgegenwärtigen Investitionen in Beton-Gold weichen. Aus den Einzimmer-Buden werden jetzt schicke mehr als doppelt so große Appartements mit Balkon und Panorama-Fenstern, um gegen den bunt gescheckten Neubau fünfzig Meter weiter anzustinken, der im vergangenen Jahr in Windeseile hochgezogen wurde. In München herrscht immer noch akuter Wohnungsmangel. Selbst Mansarden werden zu Monsterpreisen vermietet.
Aber wer soll die alle bewohnen oder gar kaufen? Die, die da unten herumwuseln sicher nicht. Wer um diese Uhrzeit schon unterwegs ist, dem reicht das Einkommen gerade noch für ein paar Stunden friedlichen Feierabends vor dem Fernseher nach all der Maloche. Dass es ihnen dabei immer noch besser geht als all den Asylanten und Flüchtlingen, die München derzeit gar nicht mehr bewältigen kann, wird denen da untern nur ein schwacher Trost sein.
Dennoch beneide ich sie irgendwie. Sie sind zu einem Ziel unterwegs, haben einen Tagesablauf der abends belohnt werden muss. Bei mir ist das genau umgekehrt. Ich habe soviel Freizeit, dass ich mich danach sehne, mit einer Aufgabe belohnt zu werden. Aber wer will mich denn noch? So schreibe ich halt diese nichtsnutzigen Blogs, weil ich nichts anderes gelernt habe, als Worte aneinander zu reihen.
Schubert und Müller - nicht zu vergessen Heinrich Heine - haben mit Worten und Liedern Veränderungen herbei geführt. Für mich ein aussichtsloses Unterfangen. Also versuche ich noch eine kleine Mütze Schlaf zu finden: Gute Nacht!
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