Montag, 16. Januar 2012

Nietzsche und mein Über-Ich

  „Der vernünftige Autor schreibt für keine andere Nachwelt als für seine eigene. Das heißt, für sein Alter, um auch dann noch an sich Freude haben zu können.“
(Nietzsche „Menschliches Allzumenschliches“ II,1,167)


"Wieso schreibst du das ganze Zeug in den Blogs, wenn es doch nur so wenige lesen?" Diese Frage stellt mir mein freudsches Über-Ich beinahe jedesmal, bevor ich mich an einen neuen  Post setze. "Die am Computer verbrachte Zeit könntest du ja auch sinnvoller - zum Beispiel gemeinnützig verbringen..."

Bei Zweifeln über den Sinn meines Schreibens brauche ich nur an das obige Zitat zu denken, das mir eine junge Frau vor einem Vierteljahrhundert in ein kleines Büchlein geschrieben hat. Das Büchlein war ein gebundenes Exemplar ihrer Doktor-Arbeit über die "Vita Femina: Konzeption des Selbst" unseres Philosophie-Fürsten Friedrich Nietzsche.Diese Dissertation wurde mit einem "summa cum laude" bedacht und bis heute von Nietzsche-Forschern weltweit nicht nur zitiert, sondern auch regelrecht zu Rate gezogen; unter anderem von dem sehr  beachtlichen, postmodernen US-Autor Lance Olsen in desssen experimentellen Erzählung "Nietzsche's Kisses"...
Peggy Nill also, 26 und mit höchsten akademischen Weihen bedacht, fand keinen Job. Nach einigen hundert Absagen bewarb sie sich voller Verzweiflung auf eine Anzeige meiner Redaktion - als Sekretärin.


Die junge Frau, die da zum Vorstellungsgespräch kam, sah aus, als besuche sie ein Casting für die Rolle einer blaustrümpfigen Bibliothekarin; das krasse Gegenteil der vorangegangenen, vermeintlichen aber ansonsten meist unfähigen Sexbomben in meinem Vorzimmer: 
Sie hätte auch als 50 durchgehen können, rutschte unsicher mit ihrem Altweiber-Kleidchen auf der "Besetzungscouch" hin und her und war kaum in der Lage, mir in die Augen zu schauen. 
Ich muss gestehen, dass ich von Nietzsche nicht allzuviel gewusst hätte, wäre ich während meiner Lehre beim Goldmann-Verlag nicht mit dem Umbruch der Neuauflage seiner Werke als Taschenbuch betraut gewesen. Damals geschah diese Arbeit noch mit Tipometer und hartem Bleistift auf elendlangen Druckfahnen. Und weil Werktreue vorgeschrieben war, musste ich zur Vermeidung von "Schusterjungen" und "Hurenkindern" bei problematischen Seiten genau lesen, um die Absätze entsprechend satztechnisch einzubringen.


Um mit Peggy überhaupt ins Gespräch zu kommen, fragte ich sie provokant, ob sie meine Interpretation von der Peitsche teile, die man - frei nach Nietzsche - als Mann ja nicht vergessen solle, wenn man zum Weibe gehe: Ich war damals überzeugt davon, dass er mit Peitsche die Geißel der Syphilis gemeint habe, an deren letztem Stadium, der Paralyse, der Meister letztlich gestorben ist.


Es war, als hätte man in einem Reaktor den Schalter umgelegt. Fräulein Doktor erstrahlte regelrecht, ihre blauen Augen leuchteten wie Saphire und die blasse Haut begann sich zu röten. Leidenschftlich, präzise und mit unprätentiösen Redewendungen erklärte sie mir in einem Excerpt die "Vita Femina" und - bekam den Job. Sie war für den natürlich völlig überqualifiziert  und das ganze barg auch das Risiko der Unterforderung. Aber mein Über-Ich hatte da ja  wohl schon  viel weitreichendere Pläne mit ihr. Rückblickend betrachte ich es als besonderes Privileg, dass ich einmal in der Lage war, derart personelle Risiken einzugehen.


Sie war in der Erledigung ihrer Aufgaben derart schnell, dass ich sie bald probehalber schon mal mit Schlusskorrekturen bedachte. Wieviel sie aber nebenher schaffen konnte, bewies sie den Kollegen bereits an Weihnachten  mit einem hinreißenden, ganz nebenbei verfassten Theaterstück, das vom Redaktionsalltag handelte und in dem jeder Charakter - einschließlich dem meinen - punktgenau persifliert wurde. Es kam leider nie zu einer Aufführung, weil die Entwicklung uns allen davon rannte.


Nach einem halben Jahr schon musste ich wieder ein Inserat für eine Sekretärin aufgeben, weil ich Dr. Nill leistungs- und gehaltsmäßig als Schlussredakteurin hochstufte. In dem halben Jahr hatte aber auch eine meiner Mitarbeiterinnen eine gestalterische Leistung an ihr vollbracht: Peggy ließ sich - sanft und kundig beraten - das Haar leicht färben und trug nun Locken zu endlich  einer ihrem Alter entsprechenden Kleidung, die sie  gemeinsam mit der Kollegin nach dem letzten Schrei ausgesucht hatte. Vermutlich sehr "Eighties" das Styling, aber es wirkte Wunder beim nun selbstbewussteren Auftritt.

Bevor sie im Herbst darauf einem Ruf nach Berlin folgte, um dort ihr zweites Buch - einen viel beachteten künstlerischen Jubiläums-Beitrag - über den "Traum vom Fliegen" zu verfassen, übergab sie mir - da wieder in alter Schüchternheit - ihr Büchlein samt Widmung.


Es war offenbar ihr Vermächtnis an mich als Autoren, von dem sie sich vielleicht anderes gewünscht hätte  - als habe sie da schon  Ahnungen in mancherlei Richtungen gehabt. Mitunter sah ich sie nämlich durchs gläserne Treppenhaus zum Copierer gehen und plötzlich verharren. Dann blieb sie ein, zwei Minuten regungslos stehen und schien in eine andere Welt entrückt.


Auf sie selbst gemünzt, hat das Zitat leider keine Prophezeihung erfüllt. Dr. Peggy Nill starb wenig später - keine 30 Jahre alt; dem Vernehmen nach bei einer alltäglichen Verrichtung ohne eindeutige Symptome - geradeso wie das beim "plötzlichen Kindstot" geschieht.

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