Fortsetzung des Posts vom 5.11. über kulturelle Vergleiche zwischen der Türkei und Deutschland:
Religion:
Wann immer sich die Politik des religiösen Fanatismus bedient, wird Blut in Strömen vergossen. Nicht erst seit den Kreuzzügen im Mittelalter war das so, und es scheint bis in alle Zukunft so zu bleiben, wenn wir nach Irland, in den Iran oder den Irak und seit diesem Wochenende auch noch nach Nigeria schauen. Insofern erscheint einem die ursprünglich marxsche dann von Lenin entlehnte Metapher von der Religion als "Opium fürs Volk" überarbeitungsbedürftig... Opium soll ja eher friedlich stimmen!
Aber zurück in die Türkei zu Beginn der 1960er Jahre:
Der 1938 verstorbene Mustafa Kemal Pascha, ein Militärstratege mit Meriten wurde durch seine laizistischen Vorstellungen von einer modernen türkischen Gesellschaft als Staatsführer zum legendären "Atatürk" (dem Vater aller Türken).
Als ich zum ersten Mal in seinem Mausoleum auf dem Hügel Rasattepe oberhalb von Ankara stand, war ich kurioser Weise der Einzige in meiner Familie, der noch mit Religion zu tun hatte, weil ja bald die Konfirmation mit dem vorangehenden Konfirmandenunterricht anstand. Den Begriff Laizismus mussten mir meine Eltern erst erklären. Obwohl in unseren Klassenzimmern ein Kruzifix hing, das Bayerische Kultusministerium ein interkonfessionelles Morgengebet vorschrieb und außerhalb Münchens zu über 60 Prozent CSU gewählt wurde, wäre ich sonst gar nicht auf die Idee gekommen, dass Religion Einfluss auf demokratische Verhältnisse haben könnte. Ich war ja erst vor kurzem von Hamburg zugezogen. Dort gab es weder Schulgebete noch Kruzifixe, und Schulgottesdieste schon gleich gar nicht. Wir gingen an Weihnachten in die Kirche - aber allein wegen der feierlichen Stimmung und weil das irgendwie zur sentimentalen Bildung gehörte...
Auf unserer Reise durch beinahe alle Provinzen der Türkei wurden damals die meist schon über knarzende Lautsprecher von den Minaretts schallenden Gebetsaufrufe der Muezzine von uns als klangergänzendes Lokalkolorit wahrgenommen. Die berühmten Moscheen von Sinan standen uns Ungläubigen - also auch den weiblichen Familien-Mitlgiedern - genauso zur Besichtigung offen wie unbekanntere Bauten auf dem flachen Land. Dass man sich dabei an die Regeln des Anstands hielt, verstand sich genauso von selbst, wie das bei der Besichtigung christlicher Gotteshäuser ja auch der Fall gewesen wäre. Meine Erinnerung täuscht mich nicht, wenn ich behaupte, der Umgang mit der Religion war in der Türkei damals genauso zwanglos wie bei uns. Wer glauben wollte, glaubte, wer nicht glauben wollte, tolerierte. So in etwa hatte es Atatürk gewollt, und das Militär, das in der wenig demokratischen Nachkriegstürkei eigentlich das Sagen hatte, gefiel sich in der Bewahrung dieses Laizismus. Als ich Ende der 1970er noch zweimal beruflich die Türkei bereiste, war das immer noch so. Aber die Tatsache, dass im benachbarten Iran die Ayatollahs den Schah verjagt hatten und die Kunde von ihrem unbarmherzig durchgesetzten Islamismus über die Grenze drang, schüchterte die bis dahin ja eher frei praktizierenden türkischen Muslime zunehmend ein. Schleier und Fez kehrten zwar ins Straßenbild nicht zurück, aber die bereits gelebte Emanzipation der Türkinnen schien deutlich unter ihren Kopftüchern zu verschwinden.
In der Jetztzeit führt das zu einer kuriosen Situation: Je mehr in Deutschland den christlichen Kirchen die Mitglieder davonlaufen, desto stärker scheint der fundamentalistisch beeinflusste Islam unter den bereits seit mehreren Generationen in Deutschland lebenden aber nicht integrierten Türken Fuß zu fassen. Und schon spielt die Religion wieder eine Rolle im politischen Kalkül. Die Sarazins und Erdogans auf beiden Seiten machen nicht nur für ihre jeweiligen Meinungen Stimmung, sondern wollen damit auch Stimmen gewinnen. Eine fatale Perspektive...
Von mir hier demnächst Zeit-Reise 3: Wirtschaft
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