Mittwoch, 15. Dezember 2010

Amerikanische Verhältnisse

1983 war ich auf einem Kongress in Philadelphia. Damals hatte ich die Angewohnheit, Städte durch lange Spaziergänge zu erkunden. Mit einem Blick auf den Stadtplan suchte ich mir eine Straßenecke, von der aus ich den berühmten Society Hill kennen lernen wollte. Ich nannte dem Taxifahrer die Kreuzung, an der ich aussteigen wollte, und der weigerte sich schlicht, mich dort abzusetzen.
"Wenn ich Sie da rauslasse, werden Sie innerhalb der ersten 100 yards ausgeraubt."
"Aber da beginnt doch der Society Hill auf meiner Stadtkarte", entgegnete ich.
 Er fuhr mich dann zu einer Kreuzung zwei Blocks näher ans historische Zentrum, um mir zu verdeutlichen, was er gemeint hatte. Nach Westen war der Straßenzug vewüstet, Fassaden waren verrust, die Fenster zersplittert und überall lagen umgeworfene Mülltonnen, die zum Teil qualmten, wie in einem schlechten Rappervideo.
Unmittelbar nach Osten schmückten die selbe Straße bunte Markisen, niedliche Läden und umsichtig rekonstruierte Häuserfronten. Schicke Restaurants wechselten sich mit Marken-Boutiquen ab und verursachten den vollen Kulturschock, wenn man noch einmal zurück sah. Vielleicht sollte ich als weißer Fahrgast nachtragen, dass der Taxifahrer, der mich gewarnt hatte, ein Schwarzer war.

Seit die Migrations- und HarzIV-Diskussionen so hochkochen, muss ich oft an diese Erfahrung in Philadelphia denken. Wissen die Politiker hierzulande eigentlich, was sie anrichten, wenn sie ihre phantasierten Horrorszenarien für unsere von Zuwanderern geprägte Zukunft in die Nähe "amerikanischer Verhältnissse" rücken?

Die Straße, über der mein Glaserker liegt, ist eine der längsten der Landeshauptstadt und als Lebensader durch verschiedenste Stadteile durchaus vergleichbar mit der Market Street in Philadelphia, wie sie sich mir damals präsentierte. Auch sie bin ich vor kurzem in ihrer gesamten Länge entlang marschiert.
Man kann sie in ihrer gesamten Länge aus der Innenstadt nach Norden gehen, ohne wenigstens einmal auch nur die Andeutung von "Verslumung" zu erkennen. Auf den Gehsteigen verändert sie sich zwar vom Charakter, je nachdem ob sie mal eher Geschäfts- oder mehr Wohnstraße ist, oder ob sie eine oder zwei Fahrbahnen mit Straßenbahn in der Mitte hat.
Dort, wo Grünflächen oder Parks in der Nähe sind, spiegelt sich die Wohnqualität auch optisch gleich ein wenig wertiger. aber es gibt kein unmittlebares Gefälle in der Soziographie. Wenn also etwas die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund verhindern könnte, dann wäre es allein der Immobilienmarkt, der mit Vorurteilen gute Geschäfte macht. Denn von der Innenstadt mit vielfach alter Bausubstanz zum Stadtrand mit überwiegend Neubauten weist der Kaufpreis pro Quadratmeter ein Gefälle von bis zu 1500 Euro und mehr auf, was sich kurioser Weise nur unwesentlich auf die Höhe der Mieten auswirkt. Infolgedesssen hat nach der sogenannten Finanzkrise hier - wo sozialer Wohnungsbau am nötigsten wäre - eine rege Bautätigkeit an Objekten für "noch erschwingliches" Wohneigentum begonnen...


Morgen lest Ihr: Drei Straßen, drei Welten

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