DER SUCHER
Als Johannes erwachte, hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Weil ihm die Umgebung fremd war, sprang er mit einem leichten Anflug von Panik auf. Er musste sich an einer Fensterbank abstützen, weil ihm sofort schwindlig war. Aus dem Schrankabteil griff er sich einen roten Bademantel und schlüpfte in bereit stehende Hüttenschuhe aus Schaf-Fell, ohne sich über die Selbstverständlichkeit Gedanken zu machen, mit der dies geschah. Auch, dass er automatisch das Bad ansteuerte, überraschte ihn nicht.
Das Gesicht, das ihn skeptisch aus dem Spiegel betrachtete, war ihm nicht bekannt. Er nahm es jedoch als gegeben hin, wie die Räumlichkeiten, in denen er sich bewegte, als hätte er dies schon immer getan. Er kämmte sich die zotteligen grauen Haare und bürstete den lockigen Bart.
Dann stand er auf einmal in der Küche und machte Kaffee ohne darüber sonderlich nachzudenken. Er stellte den Filter auf die große Tasse, löffelte zweimal das gehäufte Maß hinein, schaltete den Wasserkocher an und stellte eine zweite, kleinere Tasse dazu, deren Henkel er nach links ausrichtete. Wieso er dies tat, wurde ihm nicht bewusst, Auf der zweiten Tasse war ein Baum mit Schleifen, Kugeln und Kerzen abgebildet. Die Darstellung löste einen Impuls aus:
Er sah sich als kleinen Jungen auf einer Schulbühne und er sang O Tannenbaum. Er war ein netter, blonder Knabe mit gezirkeltem Scheitel, weißem Hemd und viel zu kurzen langen Hosen. Ihm war vollkommen bewusst, dass dies umgearbeitete Hosen von einer seiner älteren Schwestern gewesen waren. Der alte Mann, den er nun als aktuelles Selbst nicht wahrnahm, summte auch O Tannenbaum, nahm seine, die große Tasse und stellte die andere auf den Küchentisch ohne Anstrengungen darauf zu verwenden, für wen sie bestimmt sein könnte. Denn augenscheinlich war er allein in der Wohnung. Im Wohnzimmer war außer ihm auch niemand.
Vor der Fensterfront stand eine Säule mit einem Kranz drauf. Der Baum auf der Tasse und dieser Kranz mit Schleifen und dicken roten Kerzen gehörten irgendwie zusammen. Das dämmerte ihm, während draußen über der belebten Kreuzung das restliche Tageslicht in einem heftigen Schneegestöber verschwand.
Der alte Mann rezitierte:
Advent, Advent
Die Mutti pennt,
Der Pappi rennt
Herum im Hemd
Advent, Advent
Er sah dabei seinen Vater, der seit einem Gallenleiden, „unten ohne“ schlief, nur mit einer Schlafanzugjacke bekleidet aus dem Bett in einer Wohnung steigen, die weit in der Vergangenheit existiert haben musste. Aber er konnte sie in Gedanken glasklar zuordnen. Und auch das komische Gedicht, das von ihm selbst stammte und wohl das erste einer langen, nun aber diffusen Reihe war…
Unten auf den Gehsteigen schienen alle Menschen in die gleiche Richtung zu pilgern. Ein Mann zog ein Kind auf einem Schlitten hinter sich her.
So einen Schlitten hatte er auch einmal gehabt. Er erinnerte sich daran, dass sein Vater ihn damit durch verschneite, nächtliche Straßen bis zum Ende einer Startbahn gezogen hatte. Da waren dickbäuchige Transportmaschinen in den Nachthimmel gestiegen, mit denen britische Soldaten zum Fest in die Heimat geflogen wurden. Auf einmal fiel ihm der Name des Flugzeugtyps ein. Das war die „dicke Bristol“ gewesen, und der Flughafen hieß so komisch: „Fuhlsbüttel!“
Und dann kam es ihm auch, dass er bis ins Schulalter jedes Mal vor dem bedrohlichen Donnern dieser Flugzeuge ins Haus geflohen war. Er war also auch ein ziemlich ängstliches Kind gewesen.
In diesen besonderen Nächten hatte er diese Angst nur ertragen, weil er wusste, dass nach diesem Ausflug zuhause die Wärme des Wohnzimmers und dieser einzigartig strahlende Baum warteten. Mit seinen weißen Kerzen, den goldenen und silbernen Kugeln sowie den glitzernden Fäden, sah er der Darstellung auf der Tasse überhaupt nicht ähnlich, aber Johannes ahnte, dass auch da ein Zusammenhang bestand, der sich ihm nur im Moment noch verschloss.
Er hatte gar nicht gemerkt, dass er aus der Tür gegangen war, im Fahrstuhl einen Knopf gedrückt hatte und nun in seinen Hausschuhen durch den Knöchel hohen Schnee dem Fußgängerstrom hinterher stapfte. Der Wind zauste in seinen Haaren und blies die Schneekristalle unter seinen Frottee-Bademantel und durch seinen goldfarbenen Schlafanzug hindurch. Sein Bart war sofort von Eis verkrustet Aber ihn störte das gar nicht, weil er unbedingt wissen wollte, was hier los war.
Er kam an einem großen Schaufenster vorbei, das voller bunter, unterschiedlich großer Pakete war, Dazwischen standen elegant gekleidete Puppen. Seine beiden Schwestern hatten an diesem besonderen Tag auch immer solche Pakete bekommen. Für ihn selbst lagen nur eine Zuckerstange und ein kleiner Teppichklopfer bereit.
Zuckerbrot und Peitsche, schoss es dem alten Johannes durch den Kopf und er erinnerte sich, dass er gelegentlich mit dem Teppichklopfer durchgebläut wurde, weil er wohl auch ein sehr ungezogener Knabe gewesen war. Dann dämmerte ihm, dass er natürlich auch immer Geschenke bekommen hatte – nur eben verzögert und irgendwo unter einem Vorwand versteckt, der ihn läutern sollte…
Inzwischen stauten sich die Fußgänger vor einem Glaskasten, der immer wieder prallvoll im Untergrund verschwand, um wenige Augenblicke später fast leer wieder aufzutauchen. Trotz der Fülle schienen die Leute irgendwie von Johannes abzurücken. Während er sie forschend ansah, wichen sie seinen Blicken aus. Irgendwie spürte er etwas von einer peinlichen Berührtheit, aber sie erreichte ihn nicht wirklich.
Dieses Gefühl der peinlichen Berührtheit kam ihm deshalb so bekannt vor, weil er es wohl im Zusammenhang mit den Geschenken stets selbst verspürt hatte. Bekam er gerne etwas geschenkt? Schenkte er selber gerne? Wohl beides nicht. Nun tauchte in seinen diffusen grauen Zellen, seine eigene Familie auf. Seine Kinder, seine Frau. Wieso war ihm das nicht aufgefallen, dass die gar nicht da waren. Irgendwie war es schwer gewesen, denen etwas zu schenken, glaubte er, sich zu erinnern. Aber es war auch für ihn selbst schwer gewesen, sich über selbst Gebasteltes oder Praktisches zu freuen. Aber die Schenkerei war wohl aus diesem Anlass irgendwie immer so wichtig gewesen, dass alle wochenlang ganz aufgeregt waren.
Unten auf dem Bahnsteigen ging es zu wie blöd. Auf einem großen Bildschirm verkündete einer bildgewaltig, Weihnachten werde unter dem Christbaum entschieden, aber der tiefere Sinn dieser Botschaft erschloss sich Johannes nicht. Er stieg in den Zug, in dem die meisten Leute verschwanden und wunderte sich wieder, wieso man ihm soviel Platz gewährte. Ein etwa gleich alter Mann bot ihm sogar einen Sitzplatz mit den Worten an:
„Du siehst ein wenig mitgenommen aus Santa. Ruh dich nur aus!“
So fuhr er dahin, und immer wieder tauchten hinter seiner umwölkten Stirn Filmfetzen auf, die so klar waren, als seien sie gegenwärtig. Eines Tages hatte er aufgehört, solche Bäume selber zu schmücken. Eine Klingel tönte durch die verschiedenen Wohnungen, wenn die Kerzen brannten. Er sah sich Geschichten für seine Kinder schreiben. Wusste aber immer noch nicht, weshalb und warum. Dann waren die Kinder auf einmal groß. Und seine Frau und er waren wieder allein an diesem Tag wie ganz am Anfang ihrer großen Liebe. Liebe? Daran konnte er sich gut erinnern.
Seine Frau? Seine Frau! Er sah sie, aber wo war sie? Sie war doch immer da gewesen.
„Bitte Ihren Fahrschein“, sagte da eine dunkel gekleidet Frau mit einer Eulen-Brille zu ihm und hielt ihm irgendetwas unter die Nase. Er wollte sprechen, aber da kam nichts raus. Kein Laut.
„Sie merken doch, dass der Mann ganz neben sich ist“, meinte der Herr, der ihm zuvor so fürsorglich den Platz angeboten hatte.
Die Frau rief jemandem im Abteil etwas zu, und zu zweit packten sie Johannes beim nächsten Halt unterm Arm und zogen ihn aus dem Zug.
Er wurde eine steile Treppe hinauf bugsiert, die sich irgendwie von ihm fort zu bewegen schien. Aus der Dunkelheit fuhren sie quasi in ein Lichtermeer. Lauter kleine Buden. Herrliche, aus der Vergangenheit bekannte Gerüche. Da merkte er, dass er etwas zu essen wollte. In seinem Kopf begann sich ein Satz zu bilden, aber er bekam ihn nicht heraus. Deshalb griff er sich einfach eine Fischsemmel, die sich in Reichweite befand. Ehe ihm jemand in den Arm greifen konnte, hatte er unter Protest des Verkäufers und der Kontrolleurin schon kräftig zu gebissen. Der zweite Mann hatte offenbar die Zeit genutzt, um die Polizei zu rufen. Die schien Johannes sofort zu erkennen.
„Sind Sie Johannes Goerz? Ihre Frau sucht schon seit Stunden nach Ihnen. Sie können doch nicht so einfach im Bademantel und Hausschuhen fortlaufen!“
Und zu den anderen derart mit gesenkter Stimme gewandt, dass Johannes ihn nicht hören sollte:
„Der Mann hatte vor kurzem einen Schlaganfall, aber im Krankenhaus hat er voll den Terror gemacht. Seine Frau war nur schnell über die Straße, Wein einkaufen für Weihnachten. Da war er auch schon auf und davon.“
Da fand Johannes auf einmal seine Stimme wieder:
„Wein einkaufen. Das macht Sinn. Heißt ja schließlich Wein-Nachten.“
„Zum Weinen – nicht?“ Meinte da die Kontrolleurin zum Wachtmeister.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen