Freitag, 31. Dezember 2010

Ein Prosit auf die Apokalypse

In unserer Straße ist zwischen den Jahren ein kleiner Junge angefahren worden. Er hatte sich von der Hand seiner Schwester losgerissen und war einfach auf die Fahrbahn gerannt. Die Fahrerin des Fahrzeugs, das den Kleinen beim Aufprall durch die Luft schleuderte, traf zunächst keine Schuld. Sie hatte keine Chance zum Ausweichen. Aber was sie dann tat, machte sie straffällig.

Sie stieg aus und beschimpfte den von Schürfwunden durch Rollsplit und verkrusteten Schnee stark blutenden Buben. Dann stieg sie - ohne sich weiter zu kümmern - wieder in ihr gelbes Auto und brauste davon. Unterlassene Hilfeleistung und Fahrerflucht wären da die Straftatbestände, aber sie werden von diesem unfassbaren Maß an Herzlosigkeit massiv in den Schatten gestellt.
Der Junge kam ins Krankenhaus. Bei dem Sohn türkischer, in der Schweiz lebender Eltern wurden glücklicher Weise nur leichte Verletzungen festgestellt. Man könnte diesen vergleichsweise harmlosen Unfall gemessen an dem ersten Horrorjahrzehnt des dritten Jahrtausends als Randgeschehen abtun, würfe er nicht ein entlarvendes Licht auf den in jedem von uns schlummernden Vorrat an Aufgestautem. Die Frage, die sich stellt:
Hätte sich die etwa dreißig Jahre alte, dicke Frau genauso verhalten, wäre das Kind ihr bekannt gewesen
Kann jeder von uns sagen, dass seine im Unterbewusstsein schlummernde und im Alltag stets gut kontrollierte, böse Seite sich nicht in einer Stress-Situation mit seiner häßlichen Fratze den Weg in die Öffentlichkeit bricht?

Keine Bange, ich steure hier nicht noch einen der üblichen Jahresrückblicke bei, aber vielleicht interessiert es, was mir von diesen an Horrorszenarien sicher nicht armen Jahr 2010 am stärksten in Erinnerung geblieben ist:
Die Zeitlupenaufnahme von dem Polizisten, der bei der Demo Stuttgart 21 aus seiner sicheren Kabine den Wasserwerfer bedient und mit ihm einem Demonstranten ein Auge ausgeschossen hat. Der Mann züngelte tatsächlich mit teuflischem Vergnügen, als bediene er die Konsole eines Killer-Computerspieles.

Ich habe schon viele schreckliche Dinge gesehen, ohne einen größeren seelischen Schaden davon zu tragen, aber wann immer ich das wahrhaft Böse im Antlitz eines Menschen erkennen musste, habe ich mich davon  nur schwer erholt. Liegt es am Alter oder an der tatsächlichen Verdichtung dieser Eindrücke in letzter Zeit? Ich habe wirklich das völlig unreligiöse Gefühl, als sei das Böse auf dem Vormarsch.

Der Begriff Apokalypse hat ja im Laufe der Zeit eine philosophisch-visionäre Wandlung erfahren; von der Offenbarung zum Weltuntergang, den ja irgendein obskurer Maya-Kalender für das Jahr 2012 voraussagt. Aber Nostradamus lag ja auch schon daneben...

Mit einem Schlag wird die Welt wohl aber nicht untergehen. Ich denke eher, dass wir bereits in einer Art Dauer-Apokalypse mit vielfältigem Charakter leben, in der als Gegenmittel allenfalls noch die Rückbesinnung auf den guten alten Immanuel Kant bleibt: 

"Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. “

In diesem Sinne: Ein Prosit auf die Apokalypse, und dass es für Euch  2011 doch besser kommen möge..

P.S. Die Unfallflüchtige, eine Serbin, hat sich inzwischen bei der Polizei gemeldet, eine sehr widersprüchliche Aussage gemacht und durfte zunächst ihren Führerschein behalten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt weiter. Der kleine Türke wurde aus dem Krankenhaus entlassen und ist mit seiner Familie zurück in die Schweiz gereist...

Montag, 27. Dezember 2010

Von der Integration der Stadthunde...

Vielleicht kann der Mensch ja Integration von den Stadthunden lernen. Früher als ich selbst auf dem Land einen Hund hatte, hielt ich die Vierbeiner, die ihr Leben in der Stadt fristen mussten, für bedauernswerte Wesen. Ich ergötzte mich daran, dass mein Airedale mit flatternder Zunge  und raumgreifenden Sprüngen über die Felder raste und hielt das für den Inbegriff von Freiheit. Nur,dass er sich in jedem Kuhfladen oder Aas wälzte und bei seinen Ausflügen undefnierbares Zeug verspeiste, trübte diesen Eindruck leider immer wieder.

Auf dem italienischen Burgberg, auf den wir kurz nach seinem Tod gezogen sind, verstärkte sich unser Vorurteil, dass Hunde innerhalb geschlossener Besiedlung nichts zu suchen hätten. Denn ihr Trieb, alles mit ihrem Kot markieren zu wollen, ist in den engen Gassen und auf den kleinen Plätzen nicht nur eine optische Zumutung, sondern auch eine ziemliche Geruchsbelästigung. Die Gemeindeverordnung, die Leinenzwang und Strafen für nicht beseitigte Hundehaufen vorsieht, nützte nicht allzu viel, weil ja auch streunende Hunde aus den Tälern den nun in ihrer Freiheit beschränkten Burghunden undbedingt ihre freigeistigen Duftmarken hinauftragen müssen...


Dabei ist für Herr und Hund alles nur eine Frage von Erziehung, Disziplin und der Bereitschaft, sich an die Gegebenheiten anzupassen. Dadurch, dass die Kreuzung hier unter meiner Fensterfront nur einen Steinwurf vom Park entfernt liegt und dieser goldprämierte Metzger dort seinen Laden hat, kann ich mehrmals täglich derart erstaunliche Beobachtungen über das Verhalten von Stadthunden machen, dass ich erstmals seit Jahren wieder daran denke, mir doch noch einmal einen Hund anzuschaffen. Mir ist jetzt klar geworden, dass ich in der Einbildung gelebt habe, meinem Hund ein Privileg gewährt zu haben. Dabei hatte ich nur versäumt, ihm jene Erziehung angedeihen zu lassen, in der er in seinem jeweiligen Umfeld zurecht kommt. Die Vorstellung von seiner Freiheit entsprang ja ausschließlich meinem Kopf. Vielleicht hätte er sich ja in der Stadt superwohl gefühlt, wenn er denn durch entsprechende Anleitung in ihr zurechtgekommen wäre.


Um es gleich vorweg zu sagen. Ich bin hier kreuz und quer durch die Blocks gegangen und habe bislang in keiner Straße einen Hundehaufen gesehen: selbst in den Tagen, an denen die Bürgersteige voller Schnee lagen, und auch auf der Freilaufzone im Park nicht, weil die Stadt dort entsprechend Behälter aufgestellt hat. Und doch sind es ja nicht wenige Hunde, die hier vorbeikommen. Jeder von ihnen - so scheint es - hat seine Individualität bewahrt und manche von ihnen zeigen einen ausgeprägten Charakter - gar Personality:


Ein Irish Setter mit rotem Halstuch geht frei und doch wie an einer unsichtbaren Leine. Er weicht auf dem Weg zum Park nie mehr als zwei Schritt von der jungen Joggerin, bremst ohne Kommando "Sitz" an der Roten Ampel, und wenn es auf dem Rückweg beim Metzger eine Wurstsemmel zur Belohnung gibt, wartet er ordentlich draußen, ohne sein Frauchen auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen; eine echte Paar-Beziehung.


Dann gibt es die Familien-Hunde. Ein Retriever-Mischling beispielsweise begleitet mehrmals täglich die kleine Familie deren Jüngste noch im Buggy sitzt, während die zwei Jungs mehr oder weniger noch an den Rockzipfeln ihrer Mutter hängen, die ihr Haar nach islamischer Vorschrift unter dem gebundenen Kopftuch verbirgt. Obwohl die Leine mit dem Buggy verbunden ist, hat man eher das Gefühl der Hund führt die Familie und gefällt sich selbstbewusst in der Rolle des Beschützers. Während die Jungs mit Mama in den Aladin-Market gehen, hält der Hund draußen am Buggy aufmerksam Wache. Beim Unterschreiten eines gewissen Sicherheitsabstands wird ein Fremder ohne wirkliche Aggression  kurz aber bestimmt angebellt.

Während mein Rüde an keinem anderen ohne an kürzester Leine zerrendes Durchdrehen vorbei gekommen ist, sind solche  stressigen Begegnungen hier eher die Ausnahme. Dabei könnte ich Beispiele von Bullterriern oder Bonzai- Kampfhunden aufführen, die genau so breitbeinig mit geschwollenen Klöten einherschreiten wie ihre südländisch aussehenden Herrchen.

Stadthunde lernen offenbar in dem Maße Integration, wie sie es beigebracht bekommen. Sie wirken auf mich weder eingeengt  noch unterdrückt oder gar unglücklich. Ob je ein Deutscher Schäferhund darüber nachgedacht hat, ob mittlerweile populäre Hunde-Rassen aus dem Osten oder Westen Migrationshintergrund haben? Eher nicht, wenn man die ganzen Promenadenmischungen unter den hiesigen Zamperln beobachtet!

Manche von ihnen schauen ihre Herrchen und Frauchen mitunter an, als fingen sie gleich an zu sprechen...

Dienstag, 21. Dezember 2010

Drei Straßen, drei Welten

Was prägt den Charakter einer Straße? Die Straße, über der mein Glaserker liegt, ist eine traditionelle Ausfallstraße mit einer Geschichte, die in die Renaissance und als bedeutender Handelsweg noch weiter ins Mittelalter zurück reicht. Sie wird im Westen und Osten von zwei großen Straßen flankiert, die ihre Bedeutung erst durch das Industriezeitalter gewonnen hatten und deren Wesen sich im Zuge der jüngsten Verkehrsentwicklung sehr unterschiedlich veränderte.

Die im Westen wird durch die Werkstore des großen Autobauers geprägt. In ihr liegt unser tadelloses Bürgerbüro, aber man sieht auch viele Menschen im arbeitsfähigen Alter, die zur Unzeit rauchend mit einem alkoholischen Getränk vor den unterschiedlichsten Kneipen stehen und einen prekären Eindruck hinterlassen. Die Balkons der schmucklosen Wohnfassaden werden überwiegend als zusätzlicher Lagerplatz für Gebrauchsgegenstände aller Art verwendet, die sonst beim beeengten Wohnen im Weg stünden. Am Anfang und am Ende dieser Straße gibt es jeweils Filialen von Supermarktketten deren Darbietung des Warensortiments einen ähnlich ungeordneten Eindruck macht. Alles im Angebot vermittelt: Unsere Preise sind so niedrig, da reicht es für dekorative Präsentation nicht mehr...
Es gibt dort tatsächlich unglaublich günstige Eigenmarken und Restposten, der Konsument muss aber auch aufpassen, dass ihm im abgepackten Gemüse nicht Faules untergejubelt wird. Manche suchen diese Läden nur auf, um leere Flaschen  zurück zu bringen und die Bons gegen Bares einzulösen.
Könnte dahinter ein System stecken, denn im detaillierten Preisvergleich sind viele Produkte dort oft gar nicht günstiger als andernorst?

Die Parallelstraße im Osten eröffnet gleich mit der Luxusladen-Version einer Handelskette, in der es nahezu alle kulinarischen Edelprodukte an Frischtheken gibt und erlesene Spirituosen in abgeschlossenen Glasregalen dargereicht werden. Das Wohlstandsbürgertum wird hier quasi noch mit der kleinsten Präsentation zum Zugreifen animiert.
Wer genau hinsieht und vergleicht, stellt aber fest, dass Standartprodukte mitunter äußerst - wenn nicht gar konkurrenzlos - günstig angeboten werden...

Wer den Unterschied im Anteil von "Multikulti" vermutet, wird vermutlich nicht bestätigt. Es ist eher die Integration, die bei gleicher Verteilung der Nationalitäten östlich unserer Straße besser funktioniert.
Die über und über mit Schmuck behängte Russin, die neulich mit ihrer Matka vor mir an der Kasse stand, ist von dieser Betrachtung dabei ausdrücklich ausgenommen. - die Balkons auf dem Heimweg jedoch nicht. Sie machen auch im Winter einen sehr gepflegten, immergrünen Eindruck...

Was ich damit sagen will? Keine Ahnung!

Morgen lest Ihr: Vor die Hunde gehen...

Mittwoch, 15. Dezember 2010

Amerikanische Verhältnisse

1983 war ich auf einem Kongress in Philadelphia. Damals hatte ich die Angewohnheit, Städte durch lange Spaziergänge zu erkunden. Mit einem Blick auf den Stadtplan suchte ich mir eine Straßenecke, von der aus ich den berühmten Society Hill kennen lernen wollte. Ich nannte dem Taxifahrer die Kreuzung, an der ich aussteigen wollte, und der weigerte sich schlicht, mich dort abzusetzen.
"Wenn ich Sie da rauslasse, werden Sie innerhalb der ersten 100 yards ausgeraubt."
"Aber da beginnt doch der Society Hill auf meiner Stadtkarte", entgegnete ich.
 Er fuhr mich dann zu einer Kreuzung zwei Blocks näher ans historische Zentrum, um mir zu verdeutlichen, was er gemeint hatte. Nach Westen war der Straßenzug vewüstet, Fassaden waren verrust, die Fenster zersplittert und überall lagen umgeworfene Mülltonnen, die zum Teil qualmten, wie in einem schlechten Rappervideo.
Unmittelbar nach Osten schmückten die selbe Straße bunte Markisen, niedliche Läden und umsichtig rekonstruierte Häuserfronten. Schicke Restaurants wechselten sich mit Marken-Boutiquen ab und verursachten den vollen Kulturschock, wenn man noch einmal zurück sah. Vielleicht sollte ich als weißer Fahrgast nachtragen, dass der Taxifahrer, der mich gewarnt hatte, ein Schwarzer war.

Seit die Migrations- und HarzIV-Diskussionen so hochkochen, muss ich oft an diese Erfahrung in Philadelphia denken. Wissen die Politiker hierzulande eigentlich, was sie anrichten, wenn sie ihre phantasierten Horrorszenarien für unsere von Zuwanderern geprägte Zukunft in die Nähe "amerikanischer Verhältnissse" rücken?

Die Straße, über der mein Glaserker liegt, ist eine der längsten der Landeshauptstadt und als Lebensader durch verschiedenste Stadteile durchaus vergleichbar mit der Market Street in Philadelphia, wie sie sich mir damals präsentierte. Auch sie bin ich vor kurzem in ihrer gesamten Länge entlang marschiert.
Man kann sie in ihrer gesamten Länge aus der Innenstadt nach Norden gehen, ohne wenigstens einmal auch nur die Andeutung von "Verslumung" zu erkennen. Auf den Gehsteigen verändert sie sich zwar vom Charakter, je nachdem ob sie mal eher Geschäfts- oder mehr Wohnstraße ist, oder ob sie eine oder zwei Fahrbahnen mit Straßenbahn in der Mitte hat.
Dort, wo Grünflächen oder Parks in der Nähe sind, spiegelt sich die Wohnqualität auch optisch gleich ein wenig wertiger. aber es gibt kein unmittlebares Gefälle in der Soziographie. Wenn also etwas die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund verhindern könnte, dann wäre es allein der Immobilienmarkt, der mit Vorurteilen gute Geschäfte macht. Denn von der Innenstadt mit vielfach alter Bausubstanz zum Stadtrand mit überwiegend Neubauten weist der Kaufpreis pro Quadratmeter ein Gefälle von bis zu 1500 Euro und mehr auf, was sich kurioser Weise nur unwesentlich auf die Höhe der Mieten auswirkt. Infolgedesssen hat nach der sogenannten Finanzkrise hier - wo sozialer Wohnungsbau am nötigsten wäre - eine rege Bautätigkeit an Objekten für "noch erschwingliches" Wohneigentum begonnen...


Morgen lest Ihr: Drei Straßen, drei Welten

Dienstag, 14. Dezember 2010

Brahma-Pizza und Krautwickel

Aus meinem Glaserker habe ich einen Rundumblick auf die Futterplätze meines Multikulti-Menschenzoos:
Im Westen - keine 50 Meter entfernt - gibt es Brahma-Pizza im Bollywood-Stil. Wer lieber Klassik-Pizza Italian Style mag, bekommt sie bei mir unten im Haus bei "adesso". Diese Filiale der rührigen Homeservice-Kette wird allerdings von einem freundlichen jungen Mann aus Dalmatien mit viel Geschick geführt. Ohne Lieferzeit sind die stadardisiert belegten Teigplatten übrigens sehr wohlschmeckend und ersparen meiner Frau und mir das Kochen, wenn wir in seltenen Fällen von unseren weltweiten kulinarischen Kochexperimenten zu erschöpft sind.
Meist erliegen wir aber den geschmacklichen Fernweh-Träumen der unmittelbaren Nachbarschaft, denn nur hundert Meter entfernt animiert der Aladin Market unsere Sinne für die arabischen und afrikanischen Aromen und Geschmäcker. Der Chef ist Algerier und umgibt sich mit "Homies" aus Tunesien oder der Türkei, die ihm liefern oder in seiner Fleischabteilung die besten Lamm- oder Hühnerteile parieren, die es in München gibt. Man muss sich nur reintrauen in diesen vollgestopften, engen Laden, dann versinkt man tatsächlich in 1001 Reizen. Spitzenqualität bei Gemüse, Datteln , Backwerk zu überraschend niedrigen Preisen locken vor allem die internationale islamische Studentenschaft über den Ring. Was zu bemerkenswerten Erlebnissen führt.
Neulich stand ich hinter einer jungen Perserin an der Kasse, die sich kenntnisreich nach verschiedenen Produkten erkundigte. Die Verkehrssprache war Deutsch, das die Dame aus dem Iran trotz ihrer Jugend akzent- und fehlerfrei sprach, während Aladin wegen seines rudimentären Vokabulars zwar keine Antwort schuldig blieb. - aber auf arabisch einen jungen Mann simultan um Übersetzungen bitten musste, der ihm gerade das süße Dattelgebäck aus Tunesien geliefert hatte...
Wenn ich vom "aladin" aus über die nächste Kreuzung  nach Osten gehe, bin ich kulinarisch bereits in Asien. Der "China Market"  ist zwar genauso vollgestopft, vermittelt aber eher keine sehnsuchtsvollen Erinnerungsschübe, sondern Heißhunger auf nachzukochende Wok-Spezialtäten. Selbst wenn ich mittlerweile vermeide, hungrig dorthin zu gehen, kaufe ich jedesmal zuviel. Aus Angst irgendetwas zu verpassen? China ist doch so weit weg, und das Warenangebot so authentisch!
Auch dort kaufen ansonsten zu 90 Prozent die Landsleute der Besitzerfamilie ein; im großen Stil auch Restaurants oder vielköpfige Wohngemeinschaften. Neulich stand beim Zahlen ein älterer Chinese neben mir, der offenbar kein Vertrauen in hiesige Banken hat, aber wohl in diese von Vorurteilen geprägte Nachbarschaft. Denn zur Begleichung seines überschaubaren Einkaufs zog der kleine Mann gelassen das dickste Bündel von 100-Euro-Scheinen aus seiner Tasche, das ich in natura je zu Gesicht bekommen habe...

Schaffen wir uns ab - Herr Sarazin - weil wir eine derartige Nachbarschaft nicht nur selbstverständlich zulassen, sondern auch von ihr sinnlich profitieren? Wenn unsere jungen Leute vor lauter egoistischer Jagd nach dem Geld das Heiraten und Familiegründen vergessen, darf man sich nicht wundern, dass in unserem Viertel die meisten Frauen, die einen Kinderwagen schieben, den neudeutschen "Migrationshintergrund" haben. Vielleicht ist es tatsächlich eher um unser traditionell deutsches Wertebewusstsein schlechter bestellt als bei denen, die aus der Ferne kommen und unser Land trotzdem zu dem ihren machen, weil sie es für das Paradies halten?
Von Abschaffen kann übrigens gar nicht die Rede sein, wenn ich sehe, was jeden Tag bei unserem urbayrischen Metzger auf der gegenüber liegenden Ecke unserer Kreuzung los ist. Die Internationale der Brotzeithungrigen gibt sich hier alltäglich morgens und mittags ein Stelldichein, und weil die Parkplätze so rar sind, kommt es oft über Stunden mitten im schweren Verkehr zu einem geordneten Chaos der wildesten Parkvergehen.
Neulich war es einmal besonders dreist. Ein Montagewagen einer Telefongesellschaft hatte bereits, den Radweg zugeparkt, und aus der Einbahnstraße versuchte ein Möbelwagen rückwärts samt frisch erworbener Brotzeit  und roter Ampel wieder in die Hauptstraße zurückzukommen. Was nicht ging, weil sich ein BMW-Mitarbeiterleasing-Sportwagen warnblinkend genau diagonal auf die Ecke gestellt hatte. Aber dann kam endlich ein Streifenwagen. Weil nur noch eine Lücke auf dem Bürgersteig frei war, postierte es sich dorthin. Der Einsatz rechtfertigte das ja wohl.
Der Einsatz? Die junge Beifahrerin mit dem blonden Pferdeschwanz unter der Dienstmütze hatte zwar einen Block mit Stift in der Hand als sie ausstieg. Aber anstatt Knöllchen zu verteilen, verschwand sie wippenden Zopfes mit der Einkaufsliste ebenfalls im Metzgerladen...

Morgen lest Ihr über: Amerikanische Verhältnisse

Montag, 13. Dezember 2010

Multikulti

Mein Glaserker zwölf Meter über einer recht lebhaften Kreuzung im Münchner Norden kommt mir manchmal vor wie der Beobachtungsposten für einen besonderen Menschenzoo. Egal zu welcher Tageszeit - es ist immer etwas los. Die Menschen zu meinen Füßen sind frühaktiv, tagaktiv und auf kuriose Weise auch nachtaktiv. Letzteres liegt am Rauchverbot in den Kneipen und auch an dem nahegelegenen Autobauer, der seit die Wirtschaftskrise angeblich überwunden ist, wieder Sonderschichten fährt. Wenn der Ministerpräsident, den die Amis hinter seinem Rücken als unberechenbar bezeichnen, und von dem ich mich manchmal frage, welchen Standpunkt er eigentlich wirklich vertritt, Multikulti als gescheitert betrachtet, dann sollte er sich einmal eine Weile hier zu mir setzen. Auch Sarazin ist herzlich eingeladen, um sich ein Bild durch Beobachtung und nicht durch wiedergekäute Vorurteile zu machen.
Als meine Frau und  ich nach einigen Jahren im Ausland hierher gezogen sind, waren wir im Bürgerbüro dieses Stadtteils, um uns an- und unsere Fahrzeuge umzumelden, sowie die Papiere umschreiben zu lassen. Bedient wurden wir von einem unlgaublich freundlichen und geduldigen Deutschen mit einem schier unaussprechlichen ostanatolischen Namen. Seine schulterlangen Haare waren zu einem schweren Zopf gebunden. Er trug ein Ring im Ohrläppchen, und wenn sein tadelloses Deutsch wirklich einen Anflug eines Akzents gehabt hätte, dann höchstens den von Caroline Reibers bundestauglichem bayrischen.
Wir sollten schnell lernen, dass der junge Beamte mit "Migrationshintergrund" hier keine Ausnahme, sondern eher die Regel ist. Wenn Multikulti in unserem Viertel wirklich gescheitert wäre, dann höchsten weil wir als deutsche Reiseweltmeister nur schwer in der Lage sind, uns zu integrieren. Wir Deutsche können dem christlichen Gott, Allah oder Buddha wirklich nur dankbar sein, dass wir trotz unserer unrühmlichen Vergangenheit zu keinem Exodus genötigt wurden. Ich kenne in meiner zweiten Heimat Italien Landsleute, die nach über 30 Jahren Residenz immer noch nicht in der Lage sind, sich in der Sprache ihres Gastlandes verständlich zu machen. Unsere Gastgeber dort haben sich im Rettungsnotdienst jedoch auf die altersgebrechlich werdenden Dauergäste eingestellt und schicken eine tadellos Deutsch sprechende Ärztin mit den Sankas...

Morgen lest Ihr: Am besten beobachtet man die Multikulti-Spezies an ihren Futterstellen