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Hilft es, wenn wir heute hautnah dabei sind? Verhindert das die nächsten Grausamkeiten? Quelle: digitaljournalism.blogs.wm.edu |
Wie soll einer wie ich, der über sieben Jahrzehnte keinen Krieg erlebt hat und von gewaltfreiem Gemüt ist, die 70 Tage Nachrichten über den Krieg in der Ukraine überhaupt verarbeiten können? Noch nie war es möglich derartigen Horror quasi live mit zu verfolgen. Das toppt sogar den fragwürdigen "embedded jounalism" der Bush-Kriege in Arabien. Aber was macht das mit unserem Unterbewusstsein?
Ich fange mal damit an, dass ich eingedenk der Erzählungen von Kriegsteilnehmern, meinen Kindern strikt verbat, mit Kriegsspielzeug umzugehen. Aber das war vergebens, denn sie bauten sich dann imaginäre Waffen aus Lego-Steinen -oder kreativer - Bazookas aus Papp-Versandrollen. Später kamen in den heißen Sommern die unvermeidlichen Wasserdruck-Maschinenpistolen dazu. Doch trotz aller War-Games am Computer, die dann sowieso nicht mehr zu kontrollieren waren, blieben meine Kinder bis heute nicht nur auffällig friedlich, sondern schlossen sich auch der einen oder anderen Aktion an. Mein Sohn wurde zwar gemustert, aber da gab es wohl besser geeignetes "Kanonen-Futter".
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Ist doch alles nur ein Spiel, sagen WOW-Fans Quelle: World of Warcraft |
Dann war ich, während ich hier schreibe, plötzlich unterwegs in Kindheitserinnerungen. Gemeinsames Baden mit meinem Vater zeigte mir, dass er am Oberschenkel ein tiefes Loch offenbarte, das versetzt am Po ein Pendant hatte. Das war das einzige Kriegserlebnis, das er jemals - auch später als ich erwachsenen war- mit mir teilte:
Im Endkampf bei der Verteidigung der Reichshauptstadt, war er an der zusammenbrechenden Front im Osten von Berlin in eine MG-Garbe gelaufen. Er sah die Leuchtspurgeschosse in seine Richtung drehen, und warf sich zu langsam hin, Wäre er schneller gewesen hätte es statt des glatten Durchschusses auch der Tod sein können.
Wie hat mein eher weicher, musisch ausgeprägter Vater diese Nahtod-Erfahrung wegstecken können? Wie die Gewissheit als Flakhelfer, dass die im Scheinwerfer-Kreuz erscheinenden britischen Bomber-Besatzungen gleich tot sein würden, ehe die - ebenso anonym - ihre Bombenlast über Berlin abladen konnten.
Heute wird ja im Zusammenhang mit unseren Afghanistan-Veteranen immer häufiger von psychologisch zu behandeln PTBS gesprochen. Wie sind da die Hunderttausende Heimkehrer nach Ende des Ersten und Zweiten Weltkriegs mit ihren Posttraumatischen Belastungsstörungen ohne Beistand umgegangen, wenn sie noch nicht einmal darüber reden wollten? Wie konnte mit diesem angeknacksten Personal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das westdeutsche Wirtschaftswunder gelingen, und elf Jahre nach unserer wiederholten Kriegsschuld auch wieder genügend Führungskräfte für die Bundeswehr generiert werden?
Die Kämpfenden Zeitzeugen sind ja kaum noch zu fragen. Aber ich hatte auf dem Gymnasium immerhin einen Deutsch- und Englischlehrer, der nicht hinterm Berg hielt, wenn man ihn auf seine den Kopf entstellende tiefen Scharten ansprach:
Er war zunächst U-Boot-Fahrer gewesen und hatte mit ansehen müssen, wie ein geborstenes Drahtseil bei einem Fliegerangriff seinem Maat beide Unterschenkel wegriss, bevor er selbst gar nichts mehr sah, weil Splitter in seinen Kopf eingedrungen waren. Mit der Parallaxe seiner Augen als Dauerfolge wäre er dienstuntauglich gewesen, aber er schloss noch im Krieg sein Theologie-Studium ab und ging als evangelischer Feldgeistlicher an die Westfront. Von der kam er mit einer Typologie der Soldaten zurück, die ich hier in Kurzfassung versuche, wiederzugeben:
Die Nassforschen und Vorlauten sind beim Sterben meist auch vorn dran gewesen. Je länger sie jedoch überlebten und im Rang aufstiegen, umso unerbittlicher waren sie dann auch als Vorgesetzte eher bereit, rote Linien zu überschreiten.
Den Unauffälligen gelang es oft, zwischen den Fronten weitgehend unbehelligt davon zu kommen. Wehe aber, wenn sie in direkter Konfrontation über sich hinauswachsen mussten. Dann ließen sie auch als Folge der Angst die Bestie raus.
Die Lämmer auf der Schlachtbank seien die Friedlichen gewesen, die ihren Charakter auch unter schlimmsten Bedingungen wie Mobbing oder zynischen Strafen der eigenen Leute nicht abstreifen konnten. Vermutlich war mein Vater so eines. Als strafversetzter Analytiker von Statistiken der Organisation Todt den Endsieg ressourcenmäßig infrage stellend, war er zwischenzeitlich zur "Umerziehung" an die Ostfront geschickt worden:
"Ah Sie sind Akademiker, Volljurist! Dann haben Sie sicher noch nie ein Pferde gestriegelt oder Latrinen gesäubert?" konstatierte sein Spieß höhnisch.
Die Helden-Verehrung ließen meinen Lehrer genauso in polternde Wutausbrüche geraten wir ein ehrenhafter "Tod fürs Vaterland". Dafür hatte er zu viele gesehen, die während sie mit dem Tode rangen, in Embryo-Position nach ihrer Mutter riefen.
Damals stand ich kurz vor meiner Konfirmation und hatte noch eine gewisse Gottgläubigkeit. Deshalb erinnere ich mich an eine seiner Erzählungen besonders:
Eine Granate hatte das Lazarett getroffen, in dem er seelischen Beistand leistete. In Rauch und Schutt fing er vor lauer Angst an, einen Choral zu singen, der ihm in Panik gerade einfiel. Mitten in diesem Chaos fielen viele der Halbtoten ein, gemeinsam mit ihm zu singen:
Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir;
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt du dann herfür;
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
So reiß mich aus den Ängsten
Kraft deiner Angst und Pein!
Heute als Agnostiker kann ich Text und Melodie von Paul Gerhardt und Hans Leo Haßler immer noch: Es war die siebte Strophe von "O Haupt voll Blut und Wunden".
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Hier können Interessierte den Choral in voller Länge streamen Quelle soundcloud.com |
Bleibt für mich allerdings noch immer die unbeantwortete Frage:
Wenn der Mensch imstande ist, solche Texte und derart unsterbliche Melodien zu erschaffen, was lässt ihn dann zum Vergewaltiger, andere qualvoll Folternde und letztlich gnadenloser Mörder von Zivilisten gleichen Glaubens werden? Das wird eben später nicht vom Befehls-Notstand sanktioniert. Natürlich sind es in erster Linie die Befehlshaber, die die Hauptschuld tragen und gegen die auch Zivilcourage oft tödlich ist.